Der Ungnädige
andererseits– vielleicht hatte ich ja Glück. Vielleicht brauchte ich mich heute nicht mehr damit zu befassen. Es war schon ziemlich spät, und die meisten Kollegen waren sicher bereits nach Hause gegangen. Eilig machte ich das Beste aus dem kleinen Energieausbruch, ausgelöst von einer Wunschvorstellung, und rannte hinter Derwent über die Straße. Irgendwie dachte ich, dass vielleicht doch alles klargehen würde.
Ich hätte es wirklich besser wissen müssen.
4
Wie sich herausstellte, hätten wir uns gar nicht so beeilen müssen. Godley saß noch in einer Besprechung, die sich bis in den Abend hineinzog und an der außer ihm und DI Bryce auch etliche Vertreter der obersten Chefetage teilnahmen. Diese Beamten waren so hochrangig, dass ich sie nicht persönlich, sondern nur von Bildern auf der Website der Metropolitan Police kannte. Offenbar war irgendetwas im Gange, wovon Godley alles andere als angetan war. Ganz selten, wenn die Tür zu seinem Büro offen stand, konnte ich ihn von meinem Schreibtisch aus beobachten. Er schien enorm unter Druck zu stehen, was an den tiefen Falten auf seiner Stirn und um den Mund abzulesen war. So hatte ich ihn noch nie gesehen– nicht einmal auf dem Höhepunkt der Jagd nach einem gefährlichen Serienmörder. Damals hatten sich die Medien wie wilde Bestien auf ihn gestürzt, ohne dass ihn das nach außen hin sonderlich beeindruckt hätte. Die Erschöpfung hatte man ihm natürlich angesehen, aber er war längst nicht so gehetzt gewesen wie jetzt.
Das Positive an dieser Verzögerung war, dass ich noch in Ruhe einen Blick in die Akten der beiden Mordopfer werfen konnte. Aus den Vernehmungsprotokollen der beiden Mädchen im Fall Palmer ging klar hervor, dass ihre Aussagen wirr und widersprüchlich waren, genau wie Derwent und Vera Gordon gesagt hatten. Trotzdem konnte man der Staatsanwaltschaft kaum einen Vorwurf machen, dass dennoch Anklage erhoben worden war. Kinder waren als Zeugen generell problematisch, vor allem in so traumatischen Fällen wie Kindesmissbrauch. Dabei konnte es vorkommen, dass sie die Wahrheit verzerrt darstellten und allzu bereitwillig Zusammenhänge bejahten, die erst von den Vernehmern ins Spiel gebracht wurden, oder dass sie von einer Vernehmung zur nächsten wichtige Details vergaßen. Man konnte es also in beide Richtungen drehen: Entweder hatten sie bewusst gelogen oder sie waren zu durcheinander gewesen, um sich an alles korrekt zu erinnern. Falls sie gelogen hatten, waren ihre Aussagen allerdings bestürzend plausibel, was darauf schließen ließ, dass sie die von ihnen beschriebenen Dinge tatsächlich erlebt hatten– wenn auch nicht unbedingt mit Barry Palmer. Deshalb wirkten ihre Schilderungen glaubwürdig, obwohl sie an manchen Stellen auch fadenscheinig waren. Zumindest hatten ihnen die Geschworenen trotz dieser Ungereimtheiten Glauben geschenkt. Ich versuchte, die Bitterkeit abzuschütteln, die sich in mir breitmachen wollte, denn schließlich war es nicht meine Aufgabe, nach dem Tod des Beschuldigten den Fall neu aufzurollen.
Egal ob schuldig oder nicht, er wurde als Kinderschänder gebrandmarkt, was vermutlich sein Schicksal besiegelt hatte. Aber die Frage, ob er wirklich ein Unhold war, stand hier nicht zur Debatte. Was ich von ihm hielt, spielte nicht die geringste Rolle. Er war ermordet worden, und unsere Aufgabe war es, den Täter zu finden.
Die Aussagen von Ivan Tremlett wiederum wirkten derart an den Haaren herbeigezogen, dass ich unwillkürlich Partei für die Gesetzeshüter ergriff. Tremlett entwarf in seinen Äußerungen eine komplexe Verschwörungstheorie, mit der er die kompromittierenden Bilder in seinen Datenbeständen erklären wollte. Der ermittelnde Beamte hatte allerdings sehr sorgfältig gearbeitet und Übersichten erstellt, aus denen klar hervorging, dass das Material jeweils dann heruntergeladen wurde, wenn Tremlett an seinem Rechner gearbeitet hatte. Aus der Chronik ließ sich ablesen, dass er gelegentlich beim Verfassen von E-Mails nach Bildern recherchiert hatte, als hätte er sich damit ablenken oder gar belohnen wollen. Über tausend Bilddateien hatte er an den verschiedensten Stellen gespeichert, jeweils passwortgeschützt und getarnt als harmlose persönliche Daten. Das konnte weder Zufall noch Versehen sein. Und ich fand es wenig glaubhaft, dass dies alles auf das Konto einer ihm unterstellten jungen Mitarbeiterin gehen sollte, die sich außerordentlich positiv über ihn geäußert hatte, nachdem er sie
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