Der Ungnädige

beschuldigt hatte, seine Daten manipuliert zu haben. Falls es– wie von Claudia gemutmaßt– tatsächlich ihre Absicht gewesen sein sollte, Tremlett bei seinem Arbeitgeber anzuschwärzen, hätte sie dazu schon einen sehr langen Atem gebraucht.
    Als ich die Tremlett-Akte zur Hälfte durchgesehen hatte, kam Derwent vorbeispaziert, pfiff vielsagend vor sich hin und legte mir einen Umschlag auf den Tisch. » Hanshaws Autopsiebericht. Ich dachte mir, Sie wollen vielleicht mal einen Blick draufwerfen. « Er trat ein paar Schritte zurück, um mein Gesicht besser sehen zu können, und fügte dann hinzu: » Ich hab ihn mir selbst noch nicht zu Gemüte geführt, wenn Sie mir also bei Gelegenheit eine kurze Zusammenfassung geben könnten? «
    Autopsieberichte waren so ungefähr die verhassteste Lektüre, die ich mir vorstellen konnte. Ich blätterte also die Seiten durch und versuchte, nicht weiter über das nachzudenken, was ich da las. Allein schon das reine Ausmaß der Gewalt verschlug mir die Sprache. Die Anzahl der von Dr. Hanshaw aufgelisteten Verletzungen ging in den dreistelligen Bereich– einige waren eher geringfügig, andere wiederum katastrophal. Muskelrisse, Knochenbrüche, Prellungen und Schnittwunden, Stichverletzungen, abgetrennte Gliedmaßen und grobe Gewebeausschneidungen– die Begriffe weckten meine mühsam verdrängten Erinnerungen an Barry Palmers Haus und beschworen Bilder von Ivan Tremletts Büro herauf, die ich nie sehen wollte. Ich schob die Unterlagen beiseite, starrte missmutig auf die Tür zu Godleys Büro und hoffte, dass seine Besprechung endlich zu einem Ende kam, damit ich Feierabend machen konnte.
    » Ah, das hast du also vor– dir das Remake von Die zwölf Geschworenen ansehen? Schon blöd, dass sie das Budget kürzen mussten. Die fünf Geschworenen klingt nicht halb so toll. «
    Trotz allem war es ein angenehmes Gefühl, Robs Stimme zu hören. » He, pass bloß auf, das ist nicht mehr zeitgemäß. Heutzutage heißt das politisch korrekt Die fünf Damen und Herren Geschworenen. Du musst schließlich berücksichtigen, dass möglicherweise eine Frau mit dabei sein könnte. «
    Ich lehnte mich zurück und schaute ihn an. Er sah auffallend förmlich aus in seinem dunklen Anzug. » Was machst du denn so spät noch hier? «
    » Chaosbeseitigung. «
    » Welches Chaos? «
    Er schüttelte den Kopf. » Erzähl ich dir ein andermal. «
    Wahrscheinlich zu viele ungebetene Zuhörer in der Nähe, nahm ich an. Vermutlich hatte jemand Mist gebaut, und Rob musste die Sache wieder hinbiegen. DC Rob Langton war für so etwas geradezu prädestiniert: diplomatisch, wenn es darauf ankam, clever, ohne es zur Schau zu stellen, und taff in brenzligen Situationen. Dieses Chaos– worin auch immer es bestand– würde seiner Karriere nichts anhaben. Er hatte die seltene Gabe, aus verheerenden Situationen nicht nur erhobenen Hauptes, sondern sogar mit gestärktem Rücken herauszukommen. Sein Talent und ein bisschen von seinem Glück hätte ich auch gern gehabt.
    » Was ist das denn? « Interessiert betrachtete er den Aktenstapel auf meinem Schreibtisch.
    » Mein neuer Traumjob « , antwortete ich mit gesenkter Stimme. » Schon mal näher mit Derwent zu tun gehabt? «
    » Nee, wie ist der denn so? «
    » Erzähl ich dir ein andermal « , konterte ich.
    » Ich kann’s kaum erwarten. « Dann steuerte er seinen Schreibtisch an, blieb aber noch einmal stehen und beugte sich zu mir herunter, damit ihn niemand hören konnte. » Wenn wir uns so viel zu erzählen haben, könnten wir doch später noch was zusammen essen, oder? «
    » Hältst du das wirklich für eine gute Idee? «
    » Ach, komm schon, Maeve. Seit ein paar Monaten sehe ich dich kaum noch, aber das Essen hast du dir doch sicherlich nicht abgewöhnt. «
    » Du und deine Sprüche. « Ich fing an, auf meinem Schreibtisch herumzuräumen, damit ich ihn nicht ansehen musste. » Eigentlich ist es schon ziemlich spät, und ich hab keine Ahnung, wann ich hier rauskomme. « Und außerdem hast du mich gerade daran erinnert, dass ich dir nicht ohne Grund die letzten zwei Monate aus dem Weg gegangen bin.
    » Ich kann warten. «
    » Nicht nötig. «
    » Ich weiß. «
    Hoffnungslos. » Hör mal, ich kann sowieso nicht. Dec kommt nachher noch vorbei und bringt mir meine restlichen Sachen.
    » Der arme Kerl. Muss sein ganzes Leben lang deine Kisten von einer Wohnung zur nächsten schleppen. Wie lange hast du in der letzten gewohnt? Sechs Wochen? «
    » Neun. Und wenn du damit