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Der Unheimliche Weg

Der Unheimliche Weg

Titel: Der Unheimliche Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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erklären. Nun lebte sie zehn Tage lang mit einem Menschen in engster Gemeinschaft, der ihr ein vollständig Fremder war. Sie teilte ihr Schlafzimmer mit ihm, und wenn sie nachts nicht schlafen konnte, hörte sie neben sich seine Atemzüge. Sie beide sahen das als unvermeidlich an. Sie war eine Betrügerin, eine Spionin, die ihre Rolle zu spielen hatte. Tom Betterton aber konnte sie nicht begreifen. Er schien ein Beispiel dafür zu sein, wie sehr sich ein hoch begabter junger Mensch innerhalb weniger Monate in dieser entnervenden Atmosphäre verändern konnte. Dabei schien er sich keineswegs in sein Schicksal ergeben zu haben. Weit davon entfernt, in seiner Arbeit Befriedigung zu finden, wurde er im Gegenteil gequält durch den Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Ein- oder zweimal hatte er schon wiederholt, was er an jenem ersten Abend zu ihr gesagt hatte.
    »Ich kann nicht mehr denken. Ich bin vollkommen ausgetrocknet.«
    Ja, dachte sie, Tom Betterton, der wirklich schöpferisch Begabte, ist noch mehr als andere auf Freiheit angewiesen. Keinerlei Arbeitserleichterung konnte ihm den Verlust seiner Freiheit ersetzen. Nur wenn er frei war, konnte er schöpferische Arbeit leisten.
    Und er stand jetzt nahe vor einem Nervenzusammenbruch. Er behandelte Sylvia mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit. Sie war für ihn keine Frau, nicht einmal eine Freundin. Manchmal zweifelte sie sogar daran, dass er unter dem Tod Olivias litt. Was ihn einzig und allein beschäftigte, war die Beschränkung, in der er leben musste. Immer und immer wieder sagte er:
    »Ich muss weg von hier, ich muss, ich muss«, und dann wieder: »Ich hatte ja keine Vorstellung, wie das hier sein würde. Aber wie soll ich hier wieder hinauskommen? Wie denn? Und ich muss, ich muss einfach fort!«
    Im Grunde genommen war es das Gleiche, was auch Peters gesagt hatte. Aber beide drückten es auf verschiedene Weise aus. Peters hatte gesprochen, wie ein junger, energischer, verärgerter, enttäuschter Mensch spricht, der seiner selbst sicher ist und entschlossen, sich mit den führenden Köpfen der Niederlassung zu messen. Die Rebellion Bettertons war dagegen diejenige eines Menschen, der seine ganze Spannkraft eingebüßt hat, eines Menschen, den die Unmöglichkeit einer Flucht zum Wahnsinn treibt. Aber wissen wir denn, so dachte Sylvia, wie weit es mit Peters und mir in sechs Monaten gekommen sein wird? Vielleicht hat sich bis dahin gesunde Auflehnung und das berechtigte Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten in die haltlose Verzweiflung eines in der Falle gefangenen Tieres verwandelt.
    Über all diese Dinge hätte sie gern mit Peters gesprochen. Hätte sie nur sagen dürfen: »Tom Betterton ist nicht mein Mann. Ich weiß gar nichts von ihm. Ich weiß nicht, was er war, ehe er hierher kam, und ich tappe ihm gegenüber im Dunkeln. Ich kann ihm nicht helfen, denn ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll.«
    So aber musste sie ihre Worte sehr sorgfältig abwägen. Sie sagte: »Tom kommt mir wie ein Fremder vor. Er spricht mit mir gar nicht über diese Dinge. Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Abschließung, die Gewissheit, hier eingesperrt zu sein, ihn dem Wahnsinn nahe bringt.«
    Trocken erwiderte Peters: »Das ist schon möglich.«
    »Aber sagen Sie mir nur eines: Sie sprechen mit solcher Zuversicht davon, dass wir fortkönnen – wie können wir das anstellen? Besteht denn die geringste Aussicht?«
    »Ich will nicht sagen, dass wir heute oder morgen weggehen können, Olivia. Man muss alles aufs Sorgfältigste überlegen. Sie wissen ja, dass Gefangene oft unter den schwierigsten Verhältnissen ausgebrochen sind. Viele meiner Landsleute und eine Menge der ihrigen haben Bücher darüber geschrieben, wie Gefangene sich aus deutschen Lagern befreit haben.«
    »Das war etwas ganz anderes.«
    »Im Grunde eigentlich nicht. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Natürlich können wir uns keinen Tunnel durch den Atlas bohren, und dadurch bleiben uns nur wenige Wege übrig. Aber was man ernstlich will, das kann man durchführen. Man muss Erfindungsgeist, Verstellung, Schauspielerei, Betrug, Bestechung zu Hilfe nehmen. Denken Sie einmal darüber nach. Das eine sage ich Ihnen: Ich werde hier herauskommen, das ist todsicher.«
    »Dass Sie es schaffen werden, das glaube ich«, sagte Sylvia und fügte hinzu: »Aber was wird aus mir?«
    »Bei Ihnen ist das natürlich etwas anderes.«
    Es lag Befangenheit im Ton seiner Stimme. Einen Moment lang erfasste sie nicht, was

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