Der unmoegliche Mensch
Verhalten der Frau in ihm den Verdacht, sie könnte ebenfalls verrückt sein. Er hatte sie nie aus kürzerer Entfernung gesehen als über die dreihundert Meter zwischen dem Vorpostenschiff und dem Ufer unter ihrem Haus, aber durch das Fernrohr an der Brückenreling verfolgte er die Frau bei ihrem Gang über den Strand und sah deutlicher das weiße Haar und die aschfahle Haut ihres hohen Gesichts. Ihre Arme waren dünn, aber kräftig. Die Hände hielt sie an den Hüften, während sie in einem grauen, knöchellangen Kleid herumlief. Ihre unordentliche Erscheinung war die einer Frau, der nicht bewußt ist, daß sie schon lange allein gelebt hat.
Einige Stunden beobachtete Crispin, wie sie zwischen den Leichen umherlief. Die Flut warf jeden Tag eine frische Ladung auf den Strand, aber jetzt, da die Körper schon in Verwesung übergegangen waren, hatten sie, außer aus einer gewissen Entfernung, nichts Rührendes mehr an sich. Die seichte Bucht, in der das Vorpostenschiff festgemacht war – das Fahrzeug war einer der Hunderte von Küstenfrachtern, die hastig für den Zweck umgebaut wurden, als vor zwei Jahren die ersten Schwärme von Riesenvögeln auftauchten –, lag dem Haus gerade gegenüber. Viele seiner Kugeln hatten im weißen Putz eingeschlagen.
Am Ende ihres Rundganges hatte die Frau einen Armvoll Federn gesammelt. Während Crispin zusah, die Hände an den Patronengurten über seiner Brust, watete sie durch das seichte Wasser zu einem der Vögel hinüber, um sich sein halb im Wasser liegendes Gesicht anzusehen. Dann rupfte sie eine einzige Feder von seinem Flügel und steckte sie zu der Sammlung in ihrem Arm.
Ruhelos kehrte Crispin an das Fernrohr zurück. In dem engen Okular ähnelte ihre schwankende Figur, hinter dem Büschel von weißen Federn fast versteckt, irgendeinem großen prächtigen Vogel, einem weißen Pfau. Bildete sie sich vielleicht ein, ein Vogel zu sein?
Im Ruderhaus spielte Crispin mit der Signalpistole, die dort an der Wand hing. Wenn sie am nächsten Morgen herauskäme, könnte er vielleicht eine der Leuchtkugeln über ihren Kopf schießen, um sie darauf aufmerksam zu machen, daß die Vögel ihm gehörten, Untertanen seines vergänglichen Königreichs waren. Der Farmer Hassell, der mit Quimby zu ihm gekommen war, um sich Erlaubnis geben zu lassen, einige der Vögel zu Dünger zu verbrennen, hatte Crispins moralisches Besitzrecht klar anerkannt.
Gewöhnlich unterzog Crispin das Schiff jeden Morgen einer sorgfältigen Inspektion, zählte die Munitionskästen und überprüfte die Aufhängung der Maschinengewehre. Die metallenen Caissons sprengten die rostigen Decks. Das ganze Schiff setzte sich immer tiefer in den Schlick. Bei Flut hörte Crispin das Wasser durch die tausend Risse und Nietlöcher rinnen wie ein ganzes Heer von silberzüngigen Ratten.
An diesem Morgen fiel die Inspektion jedoch aus. Nachdem er den MG-Stand auf der Brücke überprüft hatte – es gab immer die Möglichkeit, daß einige Streuner von den Nistplätzen an der verlassenen Küste herüberkamen –, ging er wieder an sein Fernrohr. Die Frau war hinter dem Haus und damit beschäftigt, die Reste einer kleinen Rosenpergola abzusägen. Ab und zu sah sie zum Himmel oder zum Kliff hinauf. Sie suchte den dunklen Kliffrand ab, als erwartete sie einen der Vögel.
Diese Erinnerung daran, daß er selbst die Angst vor den Riesenvögeln überwunden hatte, ließ Crispin erkennen, warum er es der Frau übelnahm, wenn sie ihnen die Federn ausriß. Während ihre Leiber und ihr Gefieder sich aufzulösen begannen, spürte er immer mehr das Bedürfnis, sie zu erhalten. Oft mußte er an ihre großen, tragischen Gesichter denken, als sie sich auf ihn herunterstürzten, in vielen Beziehungen eher zu bedauern als zu fürchten, die Opfer eines – wie der Distriktoffizier es genannt hatte – »biologischen Unfalls«. Crispin erinnerte sich noch ungefähr, wie er die neuen Wachstumsförderer beschrieben hatte, die man in East Anglia zur Ernteverbesserung eingesetzt hatte, und die außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Auswirkungen auf die Vogelwelt.
Vor fünf Jahren hatte Crispin noch als landwirtschaftlicher Arbeiter auf den Feldern gearbeitet, weil er nach seinen vergeudeten Jahren im Militärdienst nichts Besseres finden konnte. Er erinnerte sich an die ersten der neuen Sprühmittel, mit denen damals Weizen und andere Feldfrüchte behandelt wurden, und an die klebrigen, phosphoreszierenden Rückstände, die sie im
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