Der unsichtbare Feind (German Edition)
„Wollen Sie damit sagen, dass er immun ist?“
Tanja zuckte mit den
Achseln: „Sicher wissen kann ich es nicht, aber logisch betrachtet, ist es
unsere einzige Chance.“
Erleichterung machte sich in
den angespannten Gesichtszügen des Doktors breit: „Was würden Sie theoretisch
benötigen?“
„Nur eine Blutprobe von ihm.
Damit könnten wir erforschen, was Jonny so einzigartig macht.“
Haslauer nickte zufrieden:
„Wo finde ich diesen Jonny“?
Kapitel 35
Tiefe dunkle Ringe
zeichneten sich, wie die Schminke eines Couture Models, unter Tanjas Augen ab.
Sie fühlte sich, als hätte sie seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen. Aber noch
mehr als eine Mütze Schlaf, wünschte sie sich eine Dusche. Sie füllte eine
milchige Flüssigkeit in ein Kunststoffröhrchen, verschloss es mit einem
Schraubdeckel und ließ es in eine freie Aufnahme der Zentrifuge gleiten. Dann
schloss sie den Deckel des Laborgerätes, stellte die Geschwindigkeit an einem
Stellrad ein und betätigte die Starttaste. Mit einem leisen, elektrischen Surren
nahm das Gerät seine Arbeit auf. Tanja wischte sich erschöpft mit dem Unterarm
über die Stirn, dann wandte sie sich Schönborn zu. Der Biochemiker wertete
gerade einen automatisch generierten Bericht des PCR Thermocyclers aus. Akribisch
studierte er den Inhalt und hob eine Passage mit einem gelben Leuchtstift
hervor. Dann griff er zu einem Bleistift und kritzelte unleserliche Notizen an
den Rand des DIN-A4 Blattes. Sein weißer Laborkittel hob sich von den braunen
Fließen an Boden und Wänden wie Tag und Nacht ab. Obwohl der Raum seit den
siebziger Jahren nicht mehr renoviert wurde, beherbergte er neueste
Technologie. Tanja hatte nie zuvor mit solch einer professionellen Ausrüstung
gearbeitet. Im angeschlossenen Raum, den man nur durch eine Schleuse nach
vorhergehender Desinfektionsdusche erreichen konnte, hatte sie sich den
Großteil der letzten beiden Tage aufgehalten. Geschützt durch einen
Spezialanzug mit angeschlossener Sauerstoffzufuhr, hatten sie mit einem der aggressivsten
Viren gearbeitet, die die Menschheit je gesehen hatte. Obwohl sie und Schönborn
bahnbrechende Fortschritte gemacht hatten, kreisten ihre Gedanken immer wieder
um Gabriel. Wie ging es ihm? War er noch am Leben? Haslauer hatte ihr mehrmals
versichert, Gabriel ginge es den Umständen entsprechend gut, hatte ihr aber
untersagt ihn zu sehen.
„Erst wenn das Virustatikum
fertig ist“, hallte es in ihrem Kopf wieder.
Mit Schönborns Unterlagen
und Jonnys Blutprobe war schließlich gelungen, was niemand für möglich gehalten
hätte - ein theoretisches Virustatikum.
Das Knacken des Türschlosses
kündigte Besuch an. Schönborn war so tief in seine Arbeit versunken, dass er
die Ankunft von Landespolizeikommandanten Hahn und dem Leiter des virologischen
Institutes Wien, Doktor Haslauer, nicht bemerkte. Erst als sich Hahn lautstark
räusperte, sah der Biochemiker über den Rand seiner Brille auf.
„Wir haben die guten
Neuigkeiten soeben gehört“, frohlockte Haslauer, während er aufgeregt, wie ein
kleines Kind zu Weihnachten, in die Hände klatschte, „Wo ist er, wo ist mein
Impfstoff?“
„Dein Impfstoff?“, dachte
Tanja und rümpfte die Nase.
Schönborn deutete auf einen
weißen Schrank.
„Gut gekühlt“, bemerkte er.
Haslauer nickte, streifte
sich weiße Latexhandschuhe über und öffnete den Schrank. Flackernd erwachte die
Innebeleuchtung zum Leben. Vorsichtig griff er nach einer Ampulle, die in einem
gut gefüllten Ständer hing und hob sie andächtig empor auf Augenhöhe.
Hypnotisierend betrachtete er die bronzefarbene Flüssigkeit, in der sich sein facettenreiches
Gesicht widerspiegelte.
Gierig zählte er die
Ampullen durch – es waren zwölf Stück, die am Ständer hingen. Bald würden sie
den Impfstoff millionenfach reproduzieren. Lüstern starrte er die gekühlten
Proben an. Ob Sex tatsächlich besser war, als dieser Anblick? Er war sich nicht
sicher. Dann warf er einen verstohlenen Blick zu Tanja – aber nur für einen
Moment, bevor er sich wieder auf seine Mission konzentrierte. Seine Begierde
kannte keine Grenzen, er wollte einfach alles haben. Er wischte sich mit dem
Handrücken über sein Kinn.
„Es ist wunderschön“,
funkelte er das Elixier an, „Finden Sie nicht, dass es wunderschön ist, Doktor
Pavlova?“
Tanja antwortete nicht. Zu
tief saß die Enttäuschung über den Mann, in dem sie jahrelang einen Vater
gesehen hatte.
Haslauer starrte sie mit
flammendem Blick an:
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