Der unsichtbare Killer
Biegung machen. Angela runzelte die Stirn. Wenn er eine Biegung machte, wieso befand sich diese Wand dann direkt vor ihnen? Die Klippe bestand aus einer schneebedeckten, senkrechten Felswand und lag überwiegend im Schatten des Sirius und der hinter ihm schimmernden Ringe; deshalb war sie auch so dunkel. Auf einer Welt, die ganz aus verschiedenen, leicht abgestuften Pink- und Rottönen bestand, war es schwierig, das, was man sah, richtig einzuordnen. Etwa, dass der dahinfließende Nebel plötzlich wie abgeschnitten schien, als würde die ferne Klippe den Blick auf ihn verwehren – was absolut keinen Sinn ergab. Das Radar wiederum zeigte nichts. Gar nichts.
Ihr Blickwinkel veränderte sich, gab schlagartig die Wirklichkeit dessen preis, was vor ihnen lag. »Scheiiißeee!« Angela trat hart auf die Bremse. Ihre Hand drehte scharf am Gasgriff des Lenkrads, und rote Warngraphiken schwirrten über die Windschutzscheibe, als sie die Achsnabenmotoren in den Rückwärtsgang schaltete. Mit der anderen Hand schlug sie den Höhenregler des Schneepflugs nach vorn, sodass sich die Spitze des Vs tiefer in den Schnee senkte. Dann schrie sie »Bremst! Bremst! Bremst!« in die Ringverbindung, die sie mit den anderen Fahrern verband.
Der MTJ ruckelte. Eine dicke Schneewoge spritzte vom Schneepflug auf und flog in einem spektakulären Bogen über die Kühlerhaube; Schneematsch klatschte gegen die Windschutzscheibe und landete krachend auf dem Dach. Die Warnlichter der Traktionskontrolle flackerten bernsteinfarben auf, als die durchdrehenden Räder seitlich wegrutschten und über den Schnee schlitterten. Der ganze MTJ begann, sich langsam zu drehen. Dabei bebte und zitterte er wie verrückt.
Paresh hielt sich verzweifelt mit seiner gesunden Hand am Armaturenbrett fest, während er laut fluchte. Die hinten sitzenden Garrick und Omar klammerten sich an ihre Sitze und Türgriffe. Angelas Gurte spannten sich in Erwartung eines Aufpralls und zogen sie in den Sitz zurück. Sie konnte sich nur noch am Lenkrad festhalten. Ihre Hand schwebte über dem Notfall-Knopf für den Reifendruck – sie konnte die Ventile absprengen, sodass die Luft ausströmte, was den Reifen eine größere Aufstandsfläche verleihen würde – und außerdem höchstwahrscheinlich dazu führen würde, dass sie von der Drehkraft zerfetzt wurden.
Der MTJ kam abrupt zum Stehen. Die Hinterreifen hoben sich vom Boden und hüpften ein bisschen beim Aufkommen, während sich der Schneepflug tief in die Spur verkeilte, die er in das Eis des Flusses geritzt hatte.
»Verflucht!«, schrie Paresh.
Angela saß einfach nur da; ihr Herz pochte wie wild, während sie darauf wartete, irgendein Rutschen wahrnehmen zu können. Die Scheibenwischer glitten monoton hin und her und befreiten die Windschutzscheibe von den Schneemassen. Als sie wieder hindurchsehen konnte, deutete sie stumm mit einem zitternden Finger nach vorn, immer noch zu geschockt, um sprechen zu können.
Paresh blinzelte voraus. »Da soll mich doch der Himmel zuscheißen«, stöhnte er leise.
Alle verließen ihre Fahrzeuge und schoben sich so vorsichtig wie Schulkinder, die eine Mutprobe machten, am MTJ-1 vorbei. Sie hatten die Stelle gefunden, an der sich die beiden Flüsse miteinander vereinigten. Mit seinem riesigen System aus Nebenflüssen, das sich bis zum Eclipse-Gebirge im Osten erstreckte, und dem weiter nördlich in ihn mündenden Zell, war der Dolce wirklich ein überwältigender Fluss. Er hatte eine gewaltige Schlucht in das Land geschnitten, deren grobe Felswände beinahe zwei Kilometer in die Tiefe fielen und die am Grund locker einen Kilometer breit war. Das war es, was Angela gesehen und nicht verstanden hatte. Der Lan stürzte in einem dreihundert Meter breiten Wasserfall mehr als einen Kilometer hinunter in die Schlucht, um sich in den sehr viel größeren Dolce zu ergießen.
Der MTJ-1 war schließlich ganze zwölf Meter vom Rand entfernt zum Stehen gekommen. Die Konvoi-Mitglieder standen stumm vor dem Fahrzeug auf dem gefrorenen Fluss und sahen zu, wie der Nebel lautlos mehrere Hundert Meter nach unten trieb, ehe er sich in den beharrlichen Aufwinden der Klippe auflöste. Das Wasser des Lan musste langsam gefroren sein, über Wochen hinweg, in denen immer kleinere Mengen die Felswand hinuntergeflossen waren, bis der Fluss schließlich ganz zum Stillstand gekommen war. Die gesamte Kaskade war jetzt eingefroren; für die überwältigten Männer und Frauen, die sich oben versammelt hatten, wirkte es,
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