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Der unsichtbare Kreis

Der unsichtbare Kreis

Titel: Der unsichtbare Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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Glück haben«, sagte Samuel, ernst werdend.
Samuels Ruhe regte Otis auf. Mit welchem Recht stand Samuel ihrer Situation mit einer Gelassenheit gegenüber, die an Gleichgültigkeit grenzte. Samuels Optimismus wollte ihm lächerlich erscheinen, so närrisch wie ihr ganzes Warten und Hoffen.
»Glück wie bisher«, sagte er gereizt, seine Stimme hatte einen nervösen, bitteren Unterton. »Wir haben das Glück, nicht gleich verreckt zu sein wie die anderen.«
Samuel antwortete nicht.
Sie sahen aneinander vorbei und schwiegen.
»Warst du mal draußen?« fragte Otis müde, als die Stille unerträglich wurde.
Samuel nickte. »Sie haben nicht viel gemerkt«, sagte er kurz. Dann plötzlich laut und gereizt: »Hör endlich auf, daran zu denken!«
Otis ließ sich zurücksinken und starrte an die Decke. Wieder war alles wie eben erst geschehen. Er hatte ihre Gesichter vor Augen, als hätte sich gerade das Schott hinter ihnen geschlossen. Mit manchem hatte er kaum drei Worte gewechselt, aber jetzt war sein Gesicht da, drängte sich mit dem gleichen Recht aus der Erinnerung hervor wie die anderen.
Eine lautlose Prozession füllte den Raum. Sie lachten oder waren in ein ernstes Gespräch vertieft, ganz so, als lebten sie noch.
»Ich muß aber daran denken«, sagte Otis leise. »Es ist nicht gut, so eine Sache zu überleben. Man fühlt sich schuldig. Aber es ist dumm.«
»Vielleicht hast du recht.« Samuels Stimme klang weich, fast zärtlich.
Otis richtete sich wieder auf. Samuels Gesicht war grau und von Falten durchzogen, die ihm eine unergründliche Traurigkeit verliehen. Es mochte die trübe Beleuchtung sein, die seine Züge mit Schatten zeichnete. Unwillkürlich erschrak Otis beim Anblick des Freundes. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Wie sehe ich aus?« fragte er.
»Normal«, antwortete Samuel. »Du hast sogar rote Ohren. Dir fehlt nichts weiter. Deine Beine sind fast schon wieder völlig in Ordnung, die Strahlenkrankheit hast du überstanden, und sonst…«
Otis musterte ihn wachsam. Mit dem Mißtrauen des Kranken schenkte er der optimistischen Schilderung keinen Glauben. Sie blickten sich an, als sähen sie sich zum ersten Mal. Hatten ihre Gesichter einmal anders ausgesehen? Das Gegenwärtige überdeckte die Erinnerung daran. Wie würde das Morgen aussehen und wie das Übermorgen? Zeichnete sie bereits eine tödliche Resignation? Otis wollte die Vision aus seinem Denken vertreiben, doch sie hockte in allen Winkeln, unüberwindbar wie eine bleierne Müdigkeit.
Als müsse er eine unsichtbare Kraft überwinden, die ihn umklammert hielt, stieß sich Samuel vom Steuerpult ab. »Ich muß nach dem Rechten schauen«, sagte er entschuldigend, »vielleicht hab’ ich irgendwo was übersehen.«
Während er durch die Zentrale ging, sammelte er sorgfältig herumliegende Gegenstände auf, um sie geordnet auf ihren Platz zu legen; mit unbeweglicher Miene sortierte er die harmlosen Überbleibsel der Katastrophe.
Otis verfolgte aufmerksam seine Bewegungen, als könnte er aus ihnen die Wahrheit oder die barmherzige Lüge ablesen. Samuel verschwand aus seinem Gesichtsfeld. Auf einmal empfand Otis seine Hilflosigkeit wieder. Seine Abhängigkeit von Samuel war so perfekt wie die eines Säuglings von der Amme. Samuel brachte ihm das Essen, die Medikamente, Samuel rechnete, Samuel teilte ein; Samuel war sein Leben. Otis hätte schreien mögen vor ohnmächtiger Wut, dem Schicksal so grenzenlos ausgeliefert zu sein.
»Samuel, wo bist du, was tust du da?«
Samuel trat mit einem Tuch in der Hand aus dem Dämmer, das die gegenüberliegende Wand der Zentrale einhüllte. In der Dimensionslosigkeit des weiten, schwach erhellten Raumes wirkte er noch zierlicher als sonst. »Ich wische Staub«, sagte er ruhig, »die Geräte sind völlig verdreckt.«
Für einen Atemzug lang war Otis sprachlos, dann schrie er mit sich überschlagender Stimme: »Ja, bist du denn wahnsinnig?« Von seinem schrillen Ton erschreckt, hielt er inne. Samuel sah an ihm vorbei. Seine Mundwinkel zitterten ein wenig. Er hielt den Kopf so, daß die Augen in den Schatten ihrer Höhlung lagen. Nur die Falten, die sie umgaben, traten hervor wie schattige Furchen auf einer sonnendurchglühten Ebene. Otis suchte den Blick des Freundes. Samuel hob den Kopf ein wenig, und das blasse Licht drang wieder in seine Augen. Als Otis fortfuhr zu sprechen, war eine leise, vorwurfsvolle Zärtlichkeit in seiner Stimme. »So tu doch etwas Sinnvolles. Die Funkanlage, versuch die Funkanlage zu

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