Der unsichtbare Kreis
daß er seine Ration bereits am Morgen des vorigen Tages genommen hätte. »Ich war eher fertig«, sagte Samuel, »ich habe nicht soviel abbekommen.«
»Was war eigentlich die Ursache?« fragte Otis.
»Ich weiß es auch nicht.« Samuel hob die Schultern. »Der Reaktor selbst war es jedenfalls nicht, sonst wäre wohl nichts übriggeblieben.« Er saß in einem Sessel vor dem Reaktorpult, dessen Lichtkontrollen tot waren, und reparierte seine Taschenuhr. »Wir haben anderes zu tun, als daran zu denken.«
»Unsinn«, erwiderte Otis störrisch, »wir haben nichts zu tun, als zu warten, bis wir verrecken.«
Samuel schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Er ließ sich bei seiner Beschäftigung nicht stören.
»Was ist mit der Uhr?« fragte Otis. »Ist sie kaputt?«
»Nein«, entgegnete Samuel. »Ich nehme sie auseinander und setze sie wieder zusammen. Es macht mir Spaß.«
Otis sah ihm eine Weile zu, dann sagte er: »Sei kein Narr. Das Wunder, daß sie uns rechtzeitig finden, wird nicht eintreten. Vor tausend Jahren konnte ein Schiffbrüchiger mitten im Ozean millionenmal mehr Hoffnung auf Rettung haben als wir. Und wenn er Pech hatte, so ist er wenigstens in seiner Welt zugrunde gegangen, nicht irgendwo, wo nichts ist als Schweigen und ein bißchen Sternengefunkel.«
»Glaubst du, dein Schiffbrüchiger ist leichter gestorben, weil es auf der Erde war?« erwiderte Samuel spöttisch. »Umrauscht vom romantischen Wellenschlag des Meeres. Kann so etwas überhaupt leichter oder schwerer sein? Der Tod dauert überall nur einen Augenblick. Es ist ziemlich gleich, ob du hier verhungerst oder dort. Aber das Sterben fängt an, wenn man sich selber aufgibt, dann wird es zum endlosen Leiden, und der Tod ist nur noch eine Erlösung von der eigenen Last.«
Samuel sprang plötzlich auf, seine Hände zitterten, sein Gesicht war rot. »Leg dich doch hin«, schrie er, »und verreck!«
Doch so überraschend, wie seine Erregung gekommen war, hatte er sich wieder in der Gewalt. Einen Moment später bedeckte sein Gesicht die gewohnte Blässe. Angelegentlich betrachtete er seine Uhr, ließ mit einem leichten Klicken den Deckel zuschnappen und schob sie gewissenhaft in die Tasche.
Bis zum Abendessen sprachen sie kein Wort mehr miteinander. Schweigend nahmen sie ihre Mahlzeit ein. Samuel aß nicht viel. Den Rest seiner Ration nötigte er Otis auf. Er wirkte abgespannt. Seine Bewegungen waren schlaff, die Stimme heiser und leise.
Sie konnten sich nicht waschen. Den scharfen Schweißgeruch nahmen sie sowenig wahr wie die eingedrückten Wände und die verbeulten Verschalungen.
Otis streckte die Hand aus und löschte die trübe Beleuchtung. Seine Gedanken bewegten sich in wirrem Durcheinander. Er dachte an seine Frau und an die Kinder, und ein eigenartiger Druck auf Kopf und Körper preßte ihn zusammen, deformierte ihn zu einem funktionslosen Klumpen, der in sich zusammenkroch wie ein weiches Tier, das aus Versehen getreten wurde und nun in Erwartung des nächsten Tritts in unnatürlicher Form erstarrt, fühllos und gestaltlos, absterbend in der Peripherie, um den Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen. Er hörte Samuel sich auf seinem Lager wälzen. Sein Atem ging keuchend wie der eines Kranken.
Später fiel er in einen schweren, unruhigen Schlaf, von unerklärlichen Bildern verfolgt. Als er erwachte, wußte er nicht mehr, was er geträumt hatte. Er war nur müde, und die Beine schmerzten wieder ein wenig; es war ein angenehmer Schmerz.
Samuel war bereits auf. Er saß am Kommandopult. Den Oberkörper leicht vorgeneigt, starrte er auf den Sichtschirm, von dessen rechter oberer Kante ein schwach leuchtender Stern langsam zur Mitte wanderte, um am rechten unteren Rand wieder zu verschwinden; seit gestern war die Sonne nicht merklich größer geworden.
Die Schultern des Sitzenden waren nach vorn gesunken. Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und hielt den Kopf mit beiden Händen umfaßt.
»Wie schnell sind wir eigentlich?« fragte Otis leise.
Samuel schien die Frage nicht wahrzunehmen. Erst nach einer Weile lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sagte, ohne Otis anzusehen: »Mach dir keine Sorgen, zum Abendessen sind wir zu Hause.« Er begann leise und ein wenig schrill zu lachen.
Otis versuchte zu lächeln, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. »Hoffentlich freut sich deine Frau über meinen Besuch.«
»Sie freut sich immer, wenn uns jemand besucht.«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Otis. »Aber nein, ich werde euch zu mir einladen,
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