Der unsichtbare Kreis
absolut. Es war kein Unterschied, ob er die Augen öffnete oder nicht. Mitunter mußte er sich sehr konzentrieren, um festzustellen, daß sie geöffnet waren. Seine Umgebung war in lichtloser Anonymität versunken, sein Körper schwebte irgendwo, leicht auf und nieder wogend wie auf einem Schiff. In der Stille vermeinte er ein auf- und abschwellendes Rauschen zu vernehmen, eine gleichmäßig gegen Bordwände klatschende Dünung. Die Reling der kleinen Jacht drückte gegen seinen Magen. In seinen Händen das Gestänge war warm von der Tagessonne. Er spuckte ins schwach phosphoreszierende Wasser. Hinter sich vernahm er den leichten Schritt seiner Frau. Sie legte ihm die Arme um den Hals. Er spürte ihren Körper an seinem Rücken. Es erregte ihn, und er freute sich auf sie. Bevor er ihr unter Deck folgte, spuckte er noch einmal ins Wasser. Von der Aufschlagstelle breiteten sich kleine, leuchtende Wellen kreisförmig aus. Eine Bö riß ihm die Haare hoch.
Sie verschwand in dem erleuchteten Niedergang wie eine Fee in ihrem unterirdischen Reich. Eine ungeheure Freude packte ihn, daß er sie hatte, daß er lebte, daß er sie glücklich machen konnte.
Samuel stöhnte. Otis fuhr hoch, rief ihn beim Namen. Nach einer Weile antwortete der Kranke; er bat um etwas zu trinken. Otis schaltete das Licht ein und holte ein erfrischendes Getränk.
Samuel dankte ihm. Er sagte, daß es ihm gut gehe und daß sie wieder schlafen sollten.
Nachdem Otis das Licht gelöscht hatte, lauschte er den ruhigen Atemzügen des Freundes, dann versank er schnell in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Nach Stunden erwachte er erfrischt und ausgeruht wie lange nicht, doch mit dem beunruhigenden Gefühl, daß etwas geschehen war, daß sich etwas in seiner Umgebung verändert haben mußte. Als das Licht aufflammte, blinzelte er einen Moment, dann sah er, daß Samuels Bett leer war.
Angst jagte ihm den Puls hoch. Sein Herz hämmerte wild und unregelmäßig. Wie einen Eingeschlossenen auf einem sinkenden Schiff überfiel ihn eine tödliche Beklemmung. Er wollte schreien, doch die Laute kamen nur als verstümmeltes Keuchen von seinen Lippen. Eine unbestimmbare, doch um so furchtbarere Ahnung sagte ihm, daß Samuel nicht mehr im Raumschiff war.
Zusammengekrümmt saß er auf seinem Bett, die Füße angezogen, die Knie auseinandergedrückt, den Oberkörper zwischen sie gebeugt. Ein wenig hin und her schaukelnd, vollzog er den Ritus seiner Angst, mönchhaft fast, ein Betender, der die übermächtigen Gewalten anfleht, flüsternd, lauter werdend, schreiend, den Namen beschwörend.
Samuel.
Samuel.
»Samuel!«
Die Angst in seiner Stimme beschämt ihn, läßt ihn wieder auf die Kraft seines Körpers hoffen, der eben noch ein formloser Wattetorso zu sein schien, er wird sich seiner Sinne bewußt, seiner Fähigkeit zu denken. Peinlich berührt, versucht er den Verdacht gegen den Freund abzuschütteln, in dem er sich, ängstlich summend wie ein Insekt im Netz, zu verstricken drohte.
Irgendwo wird Samuel sein. Er hat ihn nicht verlassen, nicht allein für sich eine Rettungsrakete bestiegen, eine irgendwo geheimnisvoll versteckte, funktionierende. Hastig springt er auf, die Schuld des häßlichen Verdachts verleiht ihm Energie. Vielleicht braucht Samuel Hilfe, noch, hoffentlich. Irgendwo muß er sein, irgendwo neben oder über ihm, nicht weit weg.
Otis sah noch einmal auf Samuels Bett, dessen Leere ihm unbegreiflich war. Es war keine Sinnestäuschung. Er fuhr mit der Hand darüber; es war bereits kalt. Ohne Erfolg rief er noch einmal den Namen des Gefährten. Dann fiel sein Blick auf das Kommandopult. Die Notschleuse war in Betrieb. War Samuel etwa draußen? Als er im Fach nachsah, fehlte einer der Schutzanzüge. Hastig zwängte sich Otis in den seinen. Es dauerte endlos lange, bis er die Verschlüsse angelegt hatte. In seine Sorge um den Freund mischte sich die Beklemmung des Alleinseins. Er rief Samuel über Funk, doch es kam keine Antwort. Als er zur Schleuse ging, schmerzten seine Beine wieder.
Was wollte Samuel da draußen – in seinem Zustand?
Ungeduldig wartete er in der engen Schleusenkammer darauf, daß die Luft abgesaugt war. Um die Beine zu entlasten, lehnte er sich gegen die Wand. Als die grüne Lampe aufflammte, zögerte er. Was sollte er draußen? Dem toten Freund noch einmal ins Gesicht sehen und dieses Bild vierundzwanzig Wochen in der Einsamkeit mit sich herumtragen? Nichts weiter vor sich, als dies tote Gesicht und die ungewisse Hoffnung auf die nächste
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