Der unsichtbare Mond
hatten.«
Meredith nickte. »Wasily und Elena.«
Tetsuo sah sie verwundert an. »Nein – Elena und Michael.«
»Was?«
»Bevor sich die Strugatski-Familie in Wien niederließ, vor Wasily, liebte deine Mutter einen anderen Mann – Michael Langbein.«
»Aber… aber, ich dachte, sie haben sich erst kennen gelernt, nachdem…«
»Meredith, sie haben sich mehrere Jahre vor deiner Geburt kennen gelernt. Sie sind sich begegnet, haben sich ineinander verliebt und wollten heiraten.«
»Was hinderte sie daran?«
»Seine Familie erlaubte es nicht. Sie hätten ihm niemals gestattet, eine Zigeunerin zu heiraten – und um die beiden voneinander zu trennen, schickte man ihn fort zum Studium.«
»Damals ist er nach Oxford gegangen.«
Tetsuo nickte. »Hast du Michaels Familie gut gekannt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind gestorben, als ich noch ein Kind war.«
»Umso bedauerlicher also, dass sie sich auf diese Weise in das Leben ihres Sohnes eingemischt haben. Elena und Michael hatten sich versprochen, einander während seines ›Exils‹ treu zu bleiben. Doch Jahre der Trennung können jede Liebe schwächen und Elena hatte nie damit gerechnet, dass sie sich in einen anderen Mann verlieben würde.«
»Meinen Vater.«
»So ist es. Michaels Briefe, die ihre Freunde hereinschmuggeln konnten, kamen immer seltener und in immer größeren Abständen. Und die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, war breit genug, dass es Wasily gelang, ihr Herz zu erobern.«
Meredith nickte benommen. »Wie kehrte Michael in das Leben meiner Mutter zurück?«
»Sie war schon fast ein Jahr mit deinem Vater zusammen, als Michael nach Wien zurückkam, um herauszufinden, warum sie nicht mehr auf seine Briefe reagierte. Er traf sie an demselben Ort, wo er sie zuletzt gesehen hatte – auf dem Markt –, und mit dem ersten Blick verliebten sie sich aufs Neue ineinander. Als deine Mutter an jenem Abend nach Hause kam, fiel Wasily auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Er fragte sie danach und die ganze Wahrheit brach aus ihr heraus. Sie beteuerte ihm treu zu sein und sagte, sie hätten auf dem Markt nur miteinander gesprochen und sich nicht einmal berührt. Doch Wasily konnte sehen, dass es sie tief in ihrem Inneren berührte, und so suchte er Michael Langbein auf.«
»Er hat nach ihm gesucht? Und er hat ihn nicht getötet?«
»Das hätte deine Mutter umgebracht – und so kräftig Wasily auch war, er besaß eine sanfte Seele. Er wollte lediglich mit dem Mann sprechen, der seine Frau einmal geliebt hatte, und der sie vielleicht immer noch begehrte.«
Tetsuo hielt inne und dachte nach. Einen Augenblick später blickte er Meredith in die Augen.
»Dann beging er einen Fehler. Er liebte deine Mutter und hegte Michael gegenüber keinen Groll. Und vielleicht sah er über all ihren tränenreichen Beteuerungen, dass sie nicht mehr länger ineinander verliebt seien, die Blicke und Gesten, mit denen sie einander bedachten und die tiefer gingen, als eine jugendliche Schwärmerei, die mit der Zeit in Vergessenheit geraten kann. Also teilte er ihnen mit, er werde ausgehen und nicht vor dem Morgen zurück sein.«
»Er ließ sie dort zurück? Allein?«
»Elena zuliebe gewährte er ihnen eine gemeinsame Nacht – diese eine Nacht und keine weitere. Das war sein Fehler. Eine aus Liebe getroffene Entscheidung, aber trotzdem ein Fehler.«
»Und Elena – meine Mutter – wurde schwanger, richtig?«
Tetsuo sah Meredith an und seine Augen füllten sich mit Tränen. Dann nickte er leicht.
»Ist er deshalb fortgegangen?«
Tetsuo nickte noch einmal. »Er tat es nicht der Schande wegen, Meredith, oder weil er sie sonst um der Familienehre willen hätte töten müssen. Er ging, weil das Kind – du – nicht von ihm war, sondern von Michael. Er ging, um der Familie zu ermöglichen, als Familie zusammenzuleben und nahm damit alle Schande auf sich. Er überließ Michael alles, was er sich in seinem Leben gewünscht hatte – eine liebevolle Frau, ein Kind, ein Zuhause.«
»Und all die Briefe, die er meiner Mutter geschickt hat…«
»Er hat sie geliebt, Meredith. Er konnte nicht aufhören, sie zu lieben, und darum verzieh er ihr.«
»Aber wie konnte er das tun? Wie? Wenn es doch sie war, die ihn betrogen hat, nicht…«
»Darin liegt das Wesen des Verzeihens. Wenn man verzeiht, lädt man das Gewicht der Sünde – und ihre Konsequenzen – auf sich. Das hat dein Vater getan. Und um sicher zu gehen, dass er seine Entscheidung niemals rückgängig
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