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Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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unvollendetes Werk an der Unterseite der Kuppel – »und manche komponieren. Wir müssen die Musik nicht spielen, um sie zu hören – doch sie kann immer wieder gehört werden. Das Ende ist der Anfang…« Er mischte die Bögen durch. »Und der Anfang ist das Ende. Beides ist ein und dasselbe. Das kannst du nicht abstreiten.«
    »Das tue ich nicht, Mr. Janes. Aber ich verstehe auch nicht, was es bedeutet.«
    Er ging zu einem der riesigen Fenster und zog mit großer Anstrengung die schweren Vorhänge zurück. »Schau«, sagte er und wies auf den Schnee. »Der Winter ist angebrochen, da alles zum Ende kommt. Der Herold sagt, er hätte herausgefunden, dass auch am Anfang Winter gewesen sei. Vielleicht«, schloss er, während er die Vorhänge zuzog und an den Tisch zurückkehrte, »ist das kein wirkliches Ende, sondern nur ein verborgener Anfang.«
    Das waren nicht die Phantastereien eines unter seelischem Schock stehenden Menschen, dessen war sich Meredith sicher. Das, was er sagte, war mehr als nur Gefasel. Er sprach von Herolds Recherchen – vielleicht hatte der Chefredakteur, der in dem nervösen Mann vor ihr begraben war, etwas aus dem Stapel herausgezogen, das sie übersehen hatten.
    »Was hat Herold über den Anfang herausgefunden?«
    Abrupt änderten sich sein Verhalten und sein Gesichtsausdruck. Die unruhigen, fahrigen Bewegungen wurden sicher und präzise. Er stellte den Pappkarton auf den Tisch und durchsuchte ihn fachmännisch nach den Informationen, um die sie ihn gebeten hatte. Das war sein Spezialgebiet. Ein Teil von ihm wusste immer noch, was zu tun war.
    »Ah«, sagte er und zog eines der Bücher aus dem Karton. »Hier ist es.«
    Er reichte ihr ein Exemplar der Prosa-Edda, das voller Klebezettel war, die aus allen Seiten herausragten, und lehnte sich zurück, während sie las.
    Die meisten der Lesezeichen waren eng mit Verweisen und Notizen in Herolds kratziger Handschrift bedeckt. Doch manche waren in einer vollkommen anderen Schrift geschrieben – ganz zu schweigen von dem endlosen Gekritzel im Buch selbst, das, wie sie annahm, der frühere Besitzer an den Rändern hinterlassen hatte.
    Mit einem Mal wurde Meredith bewusst, dass die andere Schrift auf den Lesezeichen Shingo gehörte, und dass dieses Buch und vielleicht auch der Inhalt des Kartons die Entdeckung enthalten musste, die Herold vor ihrem Ausflug nach Ontario erwähnt hatte. Gerade wollte sie sich fragen, wie eine relativ moderne Taschenbuch-Ausgabe der Prosa-Edda (noch dazu auf Englisch) die beiden in solche Aufregung versetzen konnte, da fiel aus den Seiten eine Quittung. Sie war etwa acht Monate alt und trug die Adresse eines Wiener Auktionshauses. Das Buch wies außerdem eine Prägung auf der Titelseite auf, die sie bereits bei der Berührung erkannte, bevor ihre Augen den Fund bestätigten.
    Dieses Buch hatte Michael Langbein gehört.
    Erstaunt blickte Meredith zu Mr. Janes auf, der sie mit einem neugierigen Gesichtsausdruck beobachtete. Sie fuhr die Umrisse der geprägten Buchstaben nach, wandte sich dann der Seite mit dem auffälligsten Lesezeichen zu und fing an zu lesen.
    Mr. Janes stand vor dem flackernden Feuerschein und begann mitzusprechen. Sein Vortrag spiegelte auf unheimliche Weise die Textstellen wider, die sie gerade las.
    Meredith starrte das Buch an. Mit einem Schaudern stellte sie fest, dass auf der Seite, die sie aufgeschlagen hatte, eben jene Zeilen standen, die Michael einmal zitiert hatte, nachdem sie von ihrem Vater geträumt hatte – von Wasily:
     
    »Nach allen Türen,
    eh’ du ins Haus trittst,
    sollst du sehen,
    sollst scharf du schauen;
    denn nie kannst du wissen,
    ob Feinde nicht warten
    im Hause auf dich.«
     
    Diese Worte sprach König Gylfi, als er Walhalla betrat. Dann sah er drei Throne, auf denen drei Männer saßen. Gylfi begann den Männern eine Reihe von Fragen zu stellen.
    »Er begann seine Fragen so: ›Wer ist der höchste oder älteste von allen Göttern?‹ Und ihm wurde geantwortet: ›Er heißt Allvater und lebt in Ewigkeit.‹ Da fragte Gylfi: ›Wo ist dieser Gott, und was vermag er – und was für Ruhmestaten hat er vollbracht?‹ Und er erhielt zur Antwort: ›Er herrscht über sein ganzes Reich und waltet über alle Dinge, große und kleine. Himmel und Erde schuf er und Luft und alles, was darin ist. Doch das Größte ist, dass er den Menschen machte und ihm ein Leben einhauchte, das bleiben soll und nie vergehen.‹ Da fragte Gylfi: ›Was trieb er denn, bevor der Himmel und die

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