Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
Vom Netzwerk:
Erde geschaffen waren?‹ Und die Antwort lautete: ›Damals war er bei den Reifriesen.‹«
    Wie auf ein Stichwort ließ eine eisige Windböe Eis und Schnee über die Fenster der Essigfabrik prasseln. Mr. Janes hielt inne und fuhr dann mit einem ängstlichen Blick zu Meredith fort:
    »So wie alles Kalte und Grimmige aus Niflheim herrührte, so heiß und hell war es dagegen in Muspell. Und wo sich der Reif und die warme Luft begegneten, da taute und tropfte es. Und aus diesen Tropfen entstand Leben und wurde zur Gestalt eines Menschen. Der hieß Ymir, aber die Reifriesen nennen ihn Aurgelmir. Ymir war böse wie alle aus seiner Sippe, und von ihm stammen die Reifriesen ab. Doch die Söhne Bors zogen aus und erschlugen den Riesen Ymir. Als er aber fiel, lief so viel Blut aus seinen Wunden, dass das ganze Geschlecht der Reifriesen darin ertrank.«
    Schwer atmend brach Mr. Janes ab. Eine seltsame Müdigkeit schien über ihn gekommen zu sein und er konnte nicht fortfahren. Meredith stand auf und zog ihm einen Stuhl heran. Delna war in die Haupthalle zurückgekehrt, und Meredith winkte sie herbei. Sie brachte ein Tablett mit Gläsern und frischer heißer Ingwerlimonade. Mr. Janes leerte erst ein Glas, dann ein zweites. Schließlich saß er da und starrte ins Feuer.
    Ungeduldig stupste sie ihn an. »Mr. Janes? Was ist danach passiert?«
    Er wandte sich ihr blinzelnd zu, wie in einer Trance, und wies auf eine Textstelle in dem Buch.
    Meredith war so von seiner Erzählung in Bann gezogen worden, dass sie das Buch in ihrer Hand vergessen hatte. Dort stand geschrieben:
     
    »Aus Ymirs Fleisch
    ward die Erde geschaffen,
    aus dem Blute das Meer,
    aus dem Gebein das Gebirg,
    die Bäume aus dem Haar,
    der Himmel aus dem Schädel.
     
    Aus seinen Wimpern jedoch
    schufen die holden
    Götter Midgard
    dem Menschengeschlechte;
    aus des Riesen Gehirn
    wurden die Wolken
    alle, die raugesinnten, gemacht.«
     
    Moredith sah Mr. Janes noch immer ein wenig verständnislos an. Er nickte – ganz der Chefredakteur – und nahm ihre Hände in die seinen. »Meredith, Midgard ist unsere Welt, die Erde. Ihre Erschaffung bedeutete das Ende der Zeitalter des Winters. Der letzte Schnee fiel und wurde von den Feuern Muspells geschmolzen, und so entstanden alle Menschen und Tiere. Der Winter war vor allem Sein, vor allem, was wir kennen.«
    Er hielt inne und blickte auf das Schneetreiben im Garten hinaus. »Vielleicht ist dies ein neues Zeitalter des Winters.
    Vielleicht ist es nicht der Fimbulwetr, wie der Herold befürchtet, sondern nur der Übergang in eine neue Zeit.«
    Sie drückte seine Hand. »Ich hoffe, Sie haben Recht, Mr. Janes. Das hoffe ich wirklich.«
    »Das hat er nicht«, sagte eine schroffe Stimme von der Stirnseite der Halle. »Jedenfalls nicht ganz.«
    Der Sprecher stand in der offenen Tür und war so breit, dass er den gesamten Rahmen der Doppeltüre einnahm. Er bewegte sich mit einer merkwürdig fließenden Bewegung vorwärts. Dann blieb er stehen und Meredith bemerkte, dass er in die Knie gehen musste, um durch die Tür zu kommen.
    Sein Oberkörper war nackt und muskulös, und dichtes Fell bedeckte seine Unterarme. Dutzende kabelähnliche Auswüchse ragten aus seinem Rücken, schlängelten sich seine Flanken entlang und ragten wie eine Krone über seinem Schädel empor. Ein breiter, mit scharfen Spitzen bewehrter Schwanz wand sich um seine Beine und schlängelte sich hinter ihm kraftvoll über den Boden.
    Shingo.
    Er hatte sich während seiner Abwesenheit verändert, zweifellos.
    Meredith hoffte, dass die Veränderung nur körperlicher Natur sei.
    Ein Blick von Shingo ließ Delna vor Angst plappernd in die Hinterräume laufen. Er schritt durch die Halle und schob dabei Stühle und Tische voller Kraft und Anmut beiseite. »Teilweise hat er Recht, Meredith«, sagte Shingo. »Ein neues Zeitalter bricht an – doch nur für jene, die stark genug sind, um zu überleben. Für alle anderen ist Ragnarök gekommen.«
    Wie um das Gesagte zu unterstreichen, schritt er an ihr vorbei und packte Mr. Janes beim Genick. Dann trat er in einer fließenden Bewegung zur Seite und rammte ihn in den Kamin.
    »Shingo! Mein Gott, hör auf! Was tust du da?«
    »Nicht, Meredith. Ich will dir nicht wehtun.«
    Sie schrie und klammerte sich an ihn, doch er war zu kräftig geworden. Mit Leichtigkeit hielt er sie sich mit einer Hand vom Leib, während er Mr. Janes ins Feuer zwang.
    Nach einigen Sekunden konnte Meredith den Gestank ausblenden, doch sie glaubte

Weitere Kostenlose Bücher