Der unsichtbare Mond
Vater ist oder nicht, damit zu tun, ob wir beide zusammen sein können?«
»Vergiss es«, sagte er ärgerlich. »Ich sagte, es spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Vielleicht weil deine Mutter tot ist?«
»Es spielt keine Rolle.«
Meredith folgte einer Eingebung. »Vielleicht weil sie es war, die ihn umgebracht hat?«
Shingo wirbelte herum und blickte überrascht zu ihr hoch. »Wie zum Teufel kommst du dazu, so etwas zu sagen? Warum hast du das gesagt, Meredith? Warum?«
»Ich habe das Schwert gesehen, Shingo. Ich weiß, dass sie damit umgehen konnte. Hast du gesehen, wie sie ihn getötet hat?«
»Sie hätte ihn niemals getötet, Meredith. Niemals. Sie verabscheute Gewalt.«
»Aber dein Vater, Ted, hat gesagt…«
»Scheiß auf das, was er gesagt hat. Er war nicht einmal Mannes genug, um zu tun, was getan werden musste.«
»Wovon sprichst du, Shingo?«
»Sie hat deinen Vater nicht umgebracht, Meredith«, sagte er schlicht. »Ich war es.«
KAPITEL SIEBEN
Sonnentag
Es war eine der ältesten Geschichten der Welt, doch als Meredith das herausfand, war es bereits zu spät. Es hatte schon die ganze Zeit über Hinweise darauf gegeben, dass die Aktivitäten und Machenschaften der unbedeutenden Menschen in einer Kleinstadt in Wahrheit etwas Größeres darstellten – die Wiederholung von Geschichten und Mythen, auf eine Leinwand geschrieben, so groß wie die Welt.
Mit verschränkten Armen begann Shingo langsam das Gerüst zu umkreisen und seine Geschichte zu erzählen. Fast schien es, als hätte Meredith nicht einmal als Zuhörerin anwesend sein müssen. Es war eine Geschichte, die er seit Monaten wieder und wieder im Geiste durchgespielt hatte.
»Ich kam zu Fuß von einem Fußballspiel in Brendans Ferry zurück, als ich Wasily aus der Gegenrichtung auf mich zukommen sah. Ich winkte ihm zu, aber er hatte mich nicht gesehen. Dann verließ er plötzlich die Straße und verschwand in den Wald hinein. Ich wurde neugierig, und als ich zu der Stelle kam, wo er gewesen war, folgte ich ihm ins Unterholz. Zuerst dachte ich, er sei vielleicht auf der Jagd, obwohl er kein Gewehr bei sich trug und es keine Saison war. Ich blieb weit genug hinter ihm, dass er mich nicht bemerken konnte, und hatte gerade beschlossen, nach ihm zu rufen, als ich sah… ich sah…«
»Was hast du gesehen, Shingo?«
»Meine Mutter. Er war dorthin gegangen, um sich mit meiner Mutter zu treffen.«
Meredith nickte benommen. Sie ahnte, was Shingo als nächstes sagen würde.
»Du hast sie zusammen gesehen.«
Seine Lippen verzogen sich zu einer Grimasse und er schloss die Augen. Dann sammelte er sich, blickte sie an und nickte.
Meredith verlagerte ihre Position auf den Stangen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Sie hatten eine Affäre miteinander?«
»Nein!«, brüllte Shingo und schlug mit seiner gewaltigen Faust gegen das Gerüst, das noch immer qualmte. Unter der Wucht des Schlages dröhnte und schwankte es. »Er muss sie dazu gezwungen haben! Sie hätte meinen Vater niemals betrogen!«
»Du hast ihn dein ganzes Leben lang gekannt. Hat er jemals irgendjemanden zu etwas gezwungen?«
Shingo antwortete nicht.
»Sah es so aus, als würde er sie zwingen?«
Shingo schrie auf und drosch erneut auf die Stangen ein, die sich allmählich durchbogen. »Er… er muss sie gezwungen haben.«
»Hat es dir diese Überzeugung leichter gemacht, ihn umzubringen?«
»Verdammt, Meredith. Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich habe ihn getötet, um die Familienehre zu verteidigen. Ich dachte, du würdest das verstehen – besonders, als ich herausfand, wer dein wirklicher Vater war.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Mir wurde klar, dass ich dich heiraten konnte, Meredith. Ich konnte mich endlich von der Schuld befreien, die ich empfand, weil ich Wasily getötet hatte. Ich liebe dich, aber ich wusste, dass ich dich unmöglich betrügen konnte, indem ich mit dir zusammen war, ohne dass du wusstest, was ich getan hatte. Wenn er aber nicht dein Vater war, konnte ich es tun. Ich konnte dich heiraten.«
»Shingo, bist du wahnsinnig? Du hast einen Menschen ermordet, den ich mein ganzes Leben lang geliebt habe! Warum sollte es für meine Gefühle einen Unterschied machen, dass er nicht mein leiblicher Vater war?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich dachte es eben, das ist alles.«
Einige Teile des Puzzles schienen jedoch immer noch nicht zusammenzupassen. »Shingo, ich vermute, dass du ziemlich gut mit dem Schwert umgehen kannst«, sagte Meredith. »Aber
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