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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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sie am Betrug hindern müssen. So jedoch, da jede Kontrolle unterblieben ist, fühlten die sich ermutigt, ja nachgerade zum Deliktverhalten gedrängt, verstehst du, Slucca? Technisch gesehen kann man von Beihilfe sprechen.«
    »Und ich soll hinfahren und denen recht geben?« »Nicht so schnell, Slucca, lass uns nichts überstürzen. Der Standpunkt der Partei ist sehr viel differenzierter. Sicher, es handelt sich da um ein nettes Häufchen von Wählerstimmen, die kämen uns zupass. Aber über die ganze Frage ist eine genaue, höchst verzweigte Ermittlung des Obersten Gerichtshofs im Gang, und du weißt ja, die Partei hat volles und absolutes Vertrauen in diese Instanz, lass bloß nie eine Gelegenheit aus, das wieder und wieder zu sagen, Slucca! Wer einen Fehler gemacht hat, muss dafür bezahlen, das ist klar. Trotzdem darf die Wut der Organisierten Falschen Invaliden uns nicht gleichgültig lassen, es ist ein soziales Problem, da sind Hunderttausende von Familien, denen wir einen Hoffnungsschimmer geben müssen, eine positive Antwort, die erstens von der Rückgabe der Summen absieht, um die der Staat sich in verbrecherischem Leichtsinn hat bringen lassen, und zweitens ...«
    Es war eine richtige Rede, ein Paradebeispiel dialektischer Hochakrobatik von der Art, die durch Wendungen wie »andererseits«, »gleichzeitig«, durch doppelte Verneinung wie »man kann nicht einfach nicht bedenken, dass« in der Schwebe gehalten wird. Dem fühlte ich mich nicht gewachsen, und andererseits waren da Benozzo Gozzolis Heilige Drei Könige in der Riccardi-Kapelle.
    »Ich sage dir, wie es ist, ich fühle mich dem nicht gewachsen. Weißt du, solange man mir eine Schere in die Hand drückt, um ein Band durchzuschneiden, schaffe ich das ja einigermaßen, aber das ist ein viel zu komplizierter Knoten für mich. Warum gehst du nicht selbst?«
    »Aber Slucca, meinst du tatsächlich, ich könnte mich persönlich bei einer solchen Frage exponieren? Nein, du fährst hin, du musst bloß die Intervention verlesen, die ich mit eigener Hand verfasst habe, unterzeichnet Slucca, natürlich.«
    »Und wenn es danach eine Diskussion gibt und die mir Fragen stellen?«
    »Slucca, du müsstest doch wissen, dass es in der Politik drei unfehlbare Formeln gibt. Was immer die dich auch fragen, du sagst: Wir hoffen auf eine gerechte Lösung. Schlägst vor: Setzen wir uns an einen runden Tisch . Empfiehlst: Die Kluft muss geschlossen werden . Fahr ruhig, Slucca, mit solchen Antworten braucht man keine Diskussion der Welt zu fürchten.«
    Aber ich fürchtete mich vor Luciana, die offenbar drauf und dran war, einen Standpunkt der Abspaltung (von mir) einzunehmen, wenn ich mich für die Falschen Invaliden entscheiden sollte, statt für die Heiligen Drei Könige.
    »Nein, schau, diesmal kann ich einfach nicht, diesmal steht meine Ehe auf dem Spiel. Ich sage es dir ganz offen: Es geht bei dieser Entscheidung um mein Leben.«
    Migliarini lächelte, und es war - dafür kann ich garantieren — kein anzügliches Lächeln.
    »Und ich, Slucca, sage dir ebenso offen, dass in dem Fall mit dir Schluss ist, dann ist es aus zwischen uns, dann bist du out.« Er kann kein Englisch, aber manchmal greift er zu Fremdsprachen, um den allzu polemischen Ton gewisser italienischer Ausdrücke abzumildern (out hatte hier die Bedeutung von »erledigt wie ein toter Hund«).
    Doch plötzlich veränderte sich sein Lächeln, vielleicht war es jetzt tatsächlich, wenn auch nicht direkt anzüglich, so doch gewissermaßen arglistig. »Aber eine Kompromisslösung wäre immerhin denkbar«, sagte er. »Nehmen wir einmal an, du fährst zu den Falschen Invaliden, und ich begleite Lucianina zu Benozzo Gozzoli?«
    »Aber, ich weiß nicht ...«
    »Lass uns das ausdiskutieren, Slucca, setzen wir uns an deinen Esszimmer tisch.«
    Es war bloß ein Diskussionsvorschlag, eine Arbeitshypothese, aber als ich Luciana davon berichtete, packte sie wortlos ihre Koffer, und am nächsten Tag, es war Freitag, nahm sie den Zug nach Florenz.
    »Ich bringe dich zum Bahnhof«
    »Nein danke, ich rufe mir ein Taxi.«
    Seit dem Tag habe ich sie, außer bei den Scheidungsformalitäten, nicht mehr gesehen. Von Florenz ist sie weiter nach Pesaro gefahren, wo ihre Eltern und ihr Bruder leben.
    »Denkst du noch ab und zu an mich?« fragte ich sie Monate später am Telefon.
    »Jeden Abend«, sagt sie, »wenn ich den Mülleimer ausleere.« Ein perfekter Schnitt, wie mit dem Rasiermesser. Jetzt ist sie mit einem Zahntechniker aus

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