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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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Migliarini hasst es, wenn man ihm auf philosophischem Gebiet widerspricht. Daher ging ich mich anpinkeln lassen. Ich passte Onorevole Bazzecca ab und fragte ihn: »Was ist jetzt, sind die Voraussetzungen gegeben?« Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Nein, ich sehe sie nicht, sie sind nicht gegeben.« So war es im besten Fall, denn es kam auch vor, dass der Angesprochene mit absoluter Offenheit antwortete, vor allem, wenn wir allein waren, ohne Journalisten um uns herum: »Was für Scheißvoraussetzungen denn?« Oder noch schlimmer: »Die Voraussetzungen? Die könnt ihr euch ihr wisst schon wohin stecken!«
    Am Morgen sprach ich mit meinem Mitbewohner und Freund Vasone darüber und erkundigte mich bei ihm, der Vizesprecher von Onorevole Cirelli ist und den ganzen Tag in Montecitorio verbringt: »Sind die Voraussetzungen denn gegeben, deiner Meinung nach?«
    Er kratzte sich das Kinn: »Im Moment nicht, nein. Gestern waren sie es ungefähr eine Stunde lang, aber als Fabiocchi aus Neapel mit dieser schroffen Erklärung hereinplatzte, sind die Karten völlig neu gemischt worden, und alle Spiele sind wieder offen. Oder auch geschlossen, wenn du willst.«
    Ich zog auch durch die Cafebars und Restaurants im Umkreis von Montecitorio, um die Parlamentsreporter auszuhorchen, die oft besser informiert sind als wir. Sie schnappen Gerüchte, Indiskretionen, Herzensergüsse und Wutausbrüche auf und haben eine feine Nase dafür, woher der Wind weht. Gleich an der Tür machte ich mit gespreiztem Zeigefinger und Daumen die fragende Schwenkbewegung, mit der man sich bei jemandem zu erkundigen pflegt, ob er vergangene Nacht das Mädchen rumgekriegt habe. Und die Reporter setzten die Tasse auf der Theke ab und machten mit dem Kaffeelöffel das Zeichen für »nein«. Natürlich hatte dann jeder von ihnen doch seine eigene Theorie zur Sache und legte sie einem dar, wenn man wollte. Das Zünglein an der Waage, sagte einer, sei jetzt Onorevole Percivalle, der sich gestern mit Onorevole Besse getroffen habe, dem der Standpunkt von Onorevole Valente überhaupt nicht gefalle, denn der wolle sich doch offensichtlich bloß über Onorevole Rapinos Veto bezüglich des Namens von Onorevole Diton hinwegsetzen. Aber Onorevole Riccomagno habe wissen lassen, dass er nach der verblüffenden Sinnesänderung Onorevole Fabiocchis nicht mehr mitmachen wolle, und daher seien die Voraussetzungen nicht mehr gegeben. Einem anderen Journalisten zufolge war das wahre Zünglein an der Waage jedoch Bazzecca, der Migliarini andeutungsweise seine Bereitschaft signalisiert habe, während er wohl gleichzeitig der tödlichen Umarmung Onorevole Salas entschlüpft sei. Aber Onorevole Cirelli habe ein energisches Veto gegen jede unsaubere Lösung eingelegt und im Einvernehmen mit Onorevole Pezzano einen Schritt zurück gemacht und sich wieder Onorevole Bonifanti angenähert. Daher seien die Voraussetzungen immer noch nicht gegeben. Ich berichtete das Wort für Wort Migliarini, der als der alte politische Jongleur, der er ist, alles im Flug erfasste, nickte, ärgerlich schnaubte, mit der rechten Faust in die linke Handfläche boxte, seufzte, die Hände vors Gesicht schlug. Es war ganz klar eine Pattsituation, schloss er, sehr viel schlimmer als Wand gegen Wand.
    »Siehst du, Slucca, Tatsache ist nämlich«, sagte er, »dass es mindestens ein Dutzend Wände gibt. Und mit welchen Folgen?«
    »Ich weiß nicht«, meinte ich, »vielleicht dass am Ende ein hübsches Häuschen entsteht?«
    »Lass dich nicht zu leichtfertigen Witzen hinreißen, Slucca, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Lass dich nicht von Vasone beeinflussen, der ja schon lange nicht mehr dazugehört. Die Folgen sind, dass, falls, um nur eine Möglichkeit zu nennen, Bazzecca einen Schritt zurück macht und auch Percivalle sich dazu entschließen sollte, alle beide mit Fabiocchi zusammenstoßen, der auch diese Taktik verfolgt hat, und dann alle drei mit Riccomagno kollidieren, der bei seinem Rückzug wiederum über Diton und Besse stolpern muss. Dann besteht Gefahr, dass wir alle wie hilflose Käfer auf dem Rücken liegen und mit den Füßen in der Luft zappeln, falls du die Metapher schnallst, Slucca. Und das wäre eine echte Katastrophe, nicht so sehr für uns, als vielmehr für das Land, das sich in diesem Augenblick so etwas nicht leisten kann.«
    Der Augenblick, ja natürlich. Es musste immer der Augenblick in Betracht gezogen werden, oder, besser gesagt, es war eigentlich nie der

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