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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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denn echt?« fragte eine Dame.
    »Und ob, das wäre ja noch schöner, ich lege immer größten Wert auf absoluten Realismus. Ich hatte mir zwei Kästen aus Australien schicken lassen, aber die waren zu groß, und schließlich habe ich urige italienische Kröten genommen, aus der Gegend um Vercelli. Natürlich hatte ich dann sofort den Verein der Freunde der Kröten am Hals, die mich wüst beschimpften. Wie gewöhnlich haben sie die Antiphrase in der Bildaussage überhaupt nicht gesehen.«
    »Und die wäre?«
    »Das Mitleid, das diese armen, roh verspeisten Tierchen einflößen, bewirkt einen enormen Sympathiezuwachs nicht nur für Kröten, auch für Frösche.«
    »Aber entschuldige, Alfred, ich finde«, sagte eine andere Dame, »also ehrlich, ich finde dein Bild einfach nur eklig, und das in Verbindung mit einer neuen Schokolade, also hör mal ...«
    »Siehst du?« erwiderte Alfred friedfertig. »Auch dir entgeht völlig die antiphrasistische Pointe meiner Arbeit. Der Ekel, das Abstoßende sind wesentliche Anstöße für den Mechanismus der Naschhaftigkeit. Ganz abgesehen davon, dass meine Botschaft auch eine hohe Valenz im Sinne der Solidarisierung hat.«
    Alfred erklärte nun die unterschwellige Beziehung zwischen dem Namen der Schokolade, einem eleganten Joseph-Conrad-Zitat, das Afrika mit seinen Millionen unterernährten Kindern evoziert, und den antiphrasistischen Herren mit Zylinder, die auf ironische Weise für die bulimische Gier des westlichen Neokolonialismus stehen sollen usw. usw. Interessant, aber den Zwecken meines Forschungsauftrags kaum dienlich, und daher ging ich weiter in den nächsten Salon, der völlig unmöbliert war.
    Der Fußboden aus polychromem Marmor war nämlich mit einem dichten Netz von Gleisen bedeckt, auf denen Modelleisenbahnen jedes Typus herumfuhren, Orientexpress, lange Güterzüge, Viehwagen mit Hakenkreuzen, Plattformwagen mit kleinen Autos darauf, Westernwaggons, Bummelzüge. Es gab auch Tunnel, kleine Bahnhöfe, Bahnschranken, eine Unmenge Weichen und Signale, und ein Mann in Jeanshemd und weißer Wolljacke kniete auf einem damastüberzogenen Schemel und steuerte all diese verworrene Betriebsamkeit mit den Tasten eines großen blinkenden Schaltbretts, das vor ihm auf dem Boden platziert war. Unter den vielen Zuschauern, die mit dem Rücken an den Gobelins standen, erkannte ich Onorevole Fava, der vor Jahren in einer linken Regierung Staatssekretär für Sozialentwicklung gewesen ist und das Goldene Buch des italienischen Adels auswendig weiß.
    »Ist das vielleicht zufällig der Hausherr?« fragte ich ihn. »Ist das der Graf? Ich muss ihm eine Botschaft von Senator Portis ausrichten.«
    »Er ist kein Graf, er ist Marchese. Aber er ist tatsächlich der Hausherr, in dem Sinne, dass er der Ehemann der Firstdomina ist.«
    Er sagte das im Flüsterton, aber mit allergrößter Selbstverständlichkeit, als wäre der gemeine Spitzname eine normale Berufsbezeichnung, die man mit dem Doktordiplom erwirbt, wie Orientalistin oder Dermatologin. Und sie stellte diesen Leuten Salons und Lakritze zur Verfügung, damit sie nach Herzenslust über die Voraussetzungen sprechen konnten!
    »Aber was macht dieser Ehemann denn so?«
    »Keine Ahnung, ich weiß nur, dass er dieses Hobby mit den Modelleisenbahnen hat, seine Sammlung ist eine der bedeutendsten Italiens. Weißt du, dass der Minister für Verkehr und Transportwesen öfter zur Beratung hierherkommt?«
    Ich konnte den Minister verstehen. Dieses Geflecht bunter Züge, die dahin rasten, sich kreuzten, langsamer wurden, dicht nebeneinander herfuhren, ohne je zusammenzustoßen oder zu entgleisen, war ein großartiges Schauspiel, das en miniature an die Bewegungen der Himmelskörper erinnerte. Ohne die Augen von diesem Spiel von hoher Symbolkraft abzuwenden (was unmöglich gewesen wäre), schlich ich vorsichtig die Wände entlang bis zu dem knienden Virtuosen, der ganz auf sein Schaltbrett konzentriert war. Er bewegte die Finger wie ein inspirierter und technisch unfehlbarer Pianist. Ich kauerte mich neben ihn und raunte ihm ins Ohr: »Marchese, ich hätte Ihnen etwas von Senator Portis auszurichten, er hat mir aufgetragen, Sie an den Satz zu erinnern:  Integer vitae ...«
    Der Marchese drehte ein Auge zu mir hin, nur eins, und für den Bruchteil einer Sekunde blieb seine Fingerkuppe auf einer Taste haften, auf einer einzigen, das schwöre ich. Aber das genügte. Drei Tankwaggons hielten plötzlich an, ein vielleicht ganz leicht verfrühter

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