Der Untergang
dreihundert Geschützen in den Nachthimmel, gefolgt von einem pompösen Feuerwerk. Die Stadt feierte die »historische Eroberung Berlins«. Der Lärm hielt tagelang an. Er war bis in die Zellen des Butyrka-Gefängnisses zu hören, in das Weidling, zwei seiner Stabsoffiziere und einige ehemalige Bunkerinsassen eines ersten Gefangenentransports eingeliefert worden waren. Auch ein Gefreiter des Volkssturms war unter den Häftlingen. Zu seinem Unglück hatte er den Verdacht der Sowjets erregt, weil er, ähnlich dem neuen amerikanischen Präsidenten, Trumann hieß. Er war aber ein Zigarrenhändler aus Potsdam.
Am frühen Nachmittag des 2. Mai, kurz nach drei Uhr, hatte
die Rote Armee, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, die Reichskanzlei besetzt. Anders als die zahlreichen, bis in die Memoirenliteratur reichenden Darstellungen angeben, ist sie nicht im Sturm genommen worden. Den Quellen zufolge war der erste Rotarmist, der in den Bunker eindrang, Oberleutnant Iwan I. Klimenko, der für seine kühne Tat zum »Helden der Sowjetunion« ernannt wurde. Doch wie schon bei der Einnahme des Reichstags hatte es auch diesmal wieder einen »inoffiziellen« Ereignisverlauf gegeben, der das erwünschte Bild auf zweifache Weise störte.
Morgens gegen neun Uhr hatte der zurückgebliebene Cheftechniker des Tiefbunkers, Johannes Hentschel, vom Verbindungstunnel her weibliche Stimmen vernommen. Beim Heraustreten aus dem Schalterraum sah er sich zu seiner Überraschung etwa zwölf uniformierten Russinnen gegenüber, die, wie sich alsbald herausstellte, einem Sanitätskorps der Roten Armee angehörten. Ihr aufgeregt übermütiges Durcheinanderreden machte Hentschel klar, daß er nichts von ihnen zu befürchten hatte. Bei seinem Erscheinen wandte sich eine der Frauen, die offenbar die Anführerin der Gruppe war und fließend Deutsch sprach, an ihn und wollte wissen, wo Hitler sei. Doch schon die folgende Frage nach »Hitlers Frau« deutete an, was sie und ihre Begleiterinnen hergeführt hatte. Denn kaum hatte Hentschel ihm die erbetene Auskunft gegeben und sie, wie verlangt, in den
Ankleideraum Eva Brauns geführt, rissen sie den Schrank sowie die große Kommode auf und stopften, was immer ihnen brauchbar schien, in mitgeführte Taschen und Beutel. »Mit einem Freudengeheul«, so hat der Ingenieur berichtet, kamen die Frauen wenig später zurück, schwenkten »mindestens ein Dutzend Büstenhalter« sowie andere spitzenbesetzte Wäschestücke durch die Luft und zogen schließlich ausgelassen von dannen.
Auf ihrem Weg aus dem Bunker begegneten sie zwei inzwischen eingetroffenen sowjetischen Offizieren, die aber keine Notiz von ihnen nahmen. Auch sie fragten Hentschel nach dem Verbleib Hitlers und hörten seinem Bericht von der Hochzeit des Führers, dem Selbstmord und der Verbrennung der Leichen ebenso gespannt wie verblüfft zu. Anschließend ließen sie sich die Räume der Familie Goebbels zeigen und schlugen nach einem kurzen Blick auf die toten Kinder entsetzt die Tür wieder zu. Später stellte sich heraus, daß sie, aller begründeten Vermutung nach, den Verbänden Marschall Konjews angehörten, die Stalin Tage zuvor angehalten hatte, weil Berlin Schukow gehören sollte. Aber das eine Vorkommnis verriet zuviel menschliche Schwäche, das andere zuviel Eigenmächtigkeit für die »Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges«. Beide tauchen daher bis heute in keiner der sowjetischen Darstellungen über die Schlacht um Berlin auf.
Mit der Einnahme der Reichskanzlei begann zugleich ein Verwirrtheater mit zeitweilig burlesken Zügen, das nicht nur die Welt geraume Zeit zum Narren, sondern Hitler zugleich fiktiv am Leben hielt. In der Nähe des Bunkerausgangs hatten die Eroberer, neben zahllosen Toten im weiteren Bereich des Gartengeländes, annähernd fünfzehn meist verbrannte oder verstümmelte menschliche Überreste gefunden. Eine vergleichsweise wohlerhaltene Leiche präparierten sie, womöglich mit Hilfe eines Maskenbildners, zum toten Hitler. Sie legten den Körper dekorativ zwischen die Trümmerbrocken und boten ihn am 4. Mai der Weltöffentlichkeit als spektakuläre Trophäe dar. Bald darauf indessen widerriefen sie die selbstverfertigte Sensation, sprachen zunächst von einem »Double« des Führers und schließlich von einer »Fälschung«. Eine Zeitlang wurde offenbar erwogen, einen weiteren, von irgendwoher beschafften Toten als Körper des deutschen Diktators zu präsentieren, doch fiel einem
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