Der Untergang der Hölle (German Edition)
hinaus, aber es war so still, dass es ihm vorkam, als wären die Radioberichte ein Hörspiel wie Orson Welles’ Krieg der Welten gewesen.
Aber er wusste es besser. Dort draußen war Tokio ähnlich wie Hiroshima dem Erdboden gleichgemacht worden, der Eiffelturm auf einen Haufen dampfendes Metall reduziert und die Gesichter der Präsidenten aus der Wand des Mount Rushmore getilgt, sodass nur nackter Felsen zurückblieb. Alles wurde auf seine ursprünglichen Bestandteile reduziert. Aber er trauerte nicht um diese verlorenen Wunder, diese Höhepunkte menschlichen Strebens.
War nicht jeder Stein der malerischen Pyramiden von Gizeh mit dem Blut von Menschen getränkt, die ihn an seine Position hatten schleppen müssen? Nein – er trauerte vielmehr um die winzigen, häufig übersehenen Details des Daseins. Um Dinge, die er allein kannte und die nur für ihn einen Wert besaßen – bittersüße und dafür umso schmerzlichere Erinnerungen. Eine Haarsträhne seiner Mutter um seinen Finger zu wickeln. Die Augen seiner Hündin, die ihn aus ihrer schwarzen Maske anhimmelten. Die grüne Linie aus Moos, die vielleicht niemand außer ihm je bewusst wahrgenommen hatte, obwohl sie jeden Tag direkt vor dem Fenster wartete und es vielleicht immer noch tat, inzwischen noch breiter und in noch leuchtenderem Grün.
In der ersten Klasse hatte ihm seine Mutter häufig einen kleinen roten Pullover angezogen und er erinnerte sich, wie er die Fusseln von ihm herunterpflückte und sie im Klassenzimmer zu Boden schweben ließ. Ein masochistisches Ritual, weil ihm zum Weinen zumute war, wenn er sie davonfliegen sah. Es waren kleine Teile von ihm und er wollte nicht, dass sie dort blieben. Er wollte, dass jeder Teil von ihm zu Hause war, zu Hause bei seiner Mutter. Wenn Materie nie zerstört, sondern nur umgeformt werden konnte, wo befanden sich diese Fusseln jetzt? Was würde bald aus seiner eigenen Materie werden?
Niemand würde sich noch an diese schwebenden roten Löwenzahnblüten erinnern. Er hatte nie jemandem davon erzählt. Natürlich hätte sich auch ohne die Apokalypse niemand an solche Details erinnert, sofern er nicht anderen davon erzählte. Sie wären in jedem Fall mit seinem Tod verloren gegangen. Aber es hätte neue Menschen mit eigenen Erinnerungen gegeben.
Mittlerweile fühlte er sich erleichtert, dass er nicht in der Lage war, Kinder zu bekommen. Froh, dass nur ein Hund neben ihm saß und darauf wartete, zusammen mit ihm zu Asche zu verbrennen, wenn überall auf der Welt die Luft Feuer fing.
Ob der angemietete Lagerraum mit seinen Betonwänden den Flammen standhalten konnte? Würden seine Bücherkisten, Skizzenblöcke, Fotoalben und Plattensammlungen ein Nest für zähe, anpassungsfähige Insekten werden … mutierte Insekten? Eine Brutstätte für eine Evolution ganz neuer Kreaturen (so wie seine grüne Mooslinie)? Ihm gefiel der Gedanke. Wäre das nicht eine bessere Erbfolge, als wenn menschliche Überlebende auf diese Sammlungen stießen?
Eine dröhnende Erschütterung durchlief den Boden des Kellers, als würde ein Zug am Haus vorbeirasen. Aber welche Züge fuhren jetzt schon noch? Würden sie versuchen, den Bomben davonzufahren, während mehr und mehr von ihnen abgeworfen wurden – alle, die überhaupt abgeworfen werden konnten – und sogar auf unbedeutende Kleinstädte niedergingen?
Adam hockte sich hin und rief die Hündin. Er drückte sie eng an sich, und es gefiel ihr. Sie leckte ihm über das Gesicht. Sie schlabberte ihm die Tränen von den Wangen. Sie brachte ihn zum Lachen und dazu, sich mit dem Arm durchs Gesicht zu wischen und sich zu fragen, wohin – wenn es ein Jenseits gab – die Seelen von Tieren verschwanden. In einem fairen und gerechten Universum würde sein Hund bis in alle Ewigkeit neben ihm durch den Himmel laufen.
Die Seele seines Hundes hatte einfach aufgehört zu existieren. Ein Glück für die Tiere.
Die Seele der jungen farbigen Frau, deren Schulter gegen seine gepresst wurde, war inzwischen vollständig wiederhergestellt, sodass sie aussah wie zu Lebzeiten. Adam stellte fest, dass sie sehr attraktiv war. Er hoffte, dass seine eigene Regeneration noch nicht weit genug fortgeschritten war, dass sie ihn sichtbar erregte und dadurch beschämte.
Sie konnten nicht wissen, dass früher schwarze Uniformen an die Verdammten ausgeteilt worden waren, wenn sie sich am Ende der Schlange einreihten. Mittlerweile wurden die neuen Seelen so nackt weitergeschickt wie bei ihrer Geburt. Um die Sache
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