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Der Untergang der islamischen Welt

Der Untergang der islamischen Welt

Titel: Der Untergang der islamischen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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ohne den Druck einer Gemeinschaft, die es nötigt, sich von ihr abzugrenzen, und eine Gemeinschaft kann es nicht ohne Individuen geben, die ihre Werte mittragen und somit ihr Funktionieren erst ermöglichen.
    Der französische Philosoph Jean Luc-Nancy betrachtet das Individuum lediglich als dem Überrest einer in sich zerfallenen Gemeinschaft. Die Abkapselung des Individuums von seiner Gemeinde ist wiederum der Anfang der Entstehung einer neuen, die ebenfalls Grenzen zu anderen Gemeinden zieht und von ihren Mitgliedern Loyalität verlangt. Bevor er Prophet wurde, war Mohamed ein Einzelgänger, der mit den Sitten seiner Gemeinde unzufrieden war, deshalb brach er aus ihrer Bahn aus und gründete den Islam, der wiederum Druck auf seine neuen Anhänger ausübte und sie gegen ihre Gegner einschwor. Auch Lenin war einst ein Individuum, das anders dachte und handelte als seine Umgebung. Aus den Gedanken der beiden Revoluzzer und durch ihr Streben sind aber zwei Systeme entstanden, die die Menschen und ihre Seelen uniformierten. Beide Idealisten waren von der eigenen Macht berauscht und wurden bald von der Realität überholt, so dass sie, ohne es zu merken, gegen die eigenen früheren Prinzipien handelten oder handeln mussten. Man darf allerdings nicht vergessen, dass sich viele Menschen nur in der Uniformierung wohl fühlen. Egal, wer auf wen Druck ausübt, Gemeinschaft und Individuum bleiben Verbündete. Es bleibt ein Wechselspiel.
    Erich Fromm geht davon aus, dass jeder Mensch von den Strukturen der Gesellschaft, in der er lebt, stark beeinflusst wird. Diese Strukturen tendieren dazu, die psychischen Energien des Einzelnen so zu gestalten, dass er das, was er tun muss, gerne tut, damit diese Gesellschaft in ihrer speziellen Form existieren kann. So gesehen wäre die Selbstverwirklichung des Menschen aus seinem eigenen individuellen Impuls heraus bis jetzt in keiner Gesellschaft dieser Welt realisiert worden. Wir alle sind gefangen in unseren Systemen, und selbst die Freiheit ist nichts außer einem Konzept von Freiheit, das uns vorgeschrieben wird. Auch die Voraussetzung und der Gedanke der Revolution entstehen durch das Selbstverständnis des Systems, nicht durch die Idee eines Individuums. Der Revolutionsführer ist lediglich ein Sprachrohr, der dem eine Sprache verleiht, was sich unter den Massen bereits zusammengebraut hat. Er spricht nur aus, was jeder weiß und will, aber nicht formulieren kann. Selbst die Revolution ist eine Flucht ins Kollektiv.
    Fromm benennt drei Fluchtwege, die aus Furcht vor der Freiheit genommen werden: die autoritären Tendenzen, den Zerstörungstrieb sowie die automatische Anpassung. Dadurch, dass die »Freiheit von etwas« nicht durch eine sinngemäße »Freiheit zu« ergänzt wird, erreicht man eine Verwirrung, die die positiven Freiheitsziele oft zu einem individuellen und kollektiven Kerker werden lassen. Somit kann man sagen, dass das Gegenteil von Individualität nicht Gemeinschaft, sondern Uniformierung ist. Der sichtbare und unsichtbare Konformitätsdruck, den eine Gesellschaft auf ihre Mitglieder ausübt, ist der wahre Feind des Individualismus. So gesehen sind wir alle in der einen oder anderen Form keine wahren Individualisten, denn wie viele von uns verlassen die Höhle des Denkens, in die sie hineingeboren sind, und interpretieren die Welt jenseits der Logik des Schattens, den das System auf uns durch seine Sozialisation wirft?
    Fromms Gedanke lässt sich vielleicht an einem Do-it-yourself-Shop für Möbel und Haushaltswaren exemplifizieren. Dort wird eine Macht auf das Individuum ausgeübt; keine Macht der Gebote, sondern der Angebote. Ein solches Geschäftsmodell weckt im Kunden die Illusion, individuell und kreativ zu sein, weil er die Ware selbst zusammenstellen kann. In Wirklichkeit findet er dort nur begrenzte kombinatorische Möglichkeiten und bewegt sich im Rahmen einer vom Hersteller vorgesehenen Phantasie. Der mündige Bürger ist in diesem Laden nichts als ein Instrument, ein Konsument, doch ihm wird das Gefühl vermittelt, er sei ein Gestalter. Es fällt vielen von uns schwer zu erkennen, dass wir in einer Ikea- und Bauhaus-Gesellschaft leben, die meisten von uns zumindest.
    Es sind immer bloß wenige, die die vorgeschriebene Bahn verlassen und sich auf ein neues Territorium wagen. Diese Menschen schreiben zwar bisweilen Geschichte, bleiben aber meist einsam und von der Gesellschaft verkannt; sie sind soziale Häretiker, die während ihrer Lebenszeit verflucht

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