Der Untergang der islamischen Welt
Westen zwei unversöhnliche Prozesse: den Drang zur Öffnung und Modernisierung und die Rückkehr zum Glauben aus Angst, dass sich alles durch die Öffnung auflöst. Und am Ende gewannen immer die Traditionalisten, weil das Repertoire, auf das sie sich berufen, immer stabil und unangefochten blieb, nämlich der Koran und die Überlieferungen des Propheten und die simple Unterteilung der Welt in Gläubige, die alles richtig machen, und Ungläubige, die nur Unheil bringen, wann immer sie auftauchen.
Die Orthodoxen hatten immer ein leichtes Spiel, denn sie mussten lediglich die Situation auf null zurückfahren und sich auf die Urgemeinde des Propheten berufen. Die Renaissance des Glaubens und die Instrumentalisierung des Islam als politische Macht waren während der Kreuzzüge und während des Kolonialismus deutlich zu spüren. In Zeiten der Unruhe sucht eine Gemeinschaft nach einem kulturellen Repertoire, mit dem sie die eigenen Leute mobilisiert. Da der Islam im Laufe der Jahrhunderte kaum Nebenidentitäten zuließ, blieb er am Ende die einzige Macht, auf die sich eine in die Defensive gedrängte Kultur beruft, um die eigene Scham zu verstecken. Aus Scham wird Angst. Aus Angst Glaube. Aus der Not eine Mission.
In seinem großen Werk »Das Sein und das Nichts« erklärt Jean-Paul Sartre das Moment des Auftretens des »Anderen« als die Entdeckung der eigenen Scham. Er findet das einprägsame »Schlüssellochgleichnis«, das so auch auf die islamische Welt zutrifft: Ein Mensch beobachtet durch ein Schlüsselloch andere. Als er erwischt wird, schämt er sich. In seinem bekanntesten Drama, »Geschlossene Gesellschaft«, pointiert Sartre den Gedanken von den »Anderen«: »Die Hölle, das sind die anderen. (…) Ich begreife, dass ich in der Hölle bin. Alle Augen auf mich gerichtet; diese Blicke, die mich auffressen.« Sartres Scham gleicht einem Sündenfall, dessen Peinlichkeit der Fremde mit seiner Beobachtung erst peinlich macht.
Es waren die caesarischen Blicke der napoleonischen Soldaten auf die Unterworfenen, die Scham und Zorn der in der Höhle lebenden Fellachen am Nil entfesselten. Diese Blicke nahmen ihnen ihre Illusion der Omnipotenz. Je mehr die Franzosen auf sie starrten, desto wütender und desorientierter reagierten die Fellachen. Mehr als zweihundert Jahre später stellt sich die Situation wenig anders dar: Eine Kultur schämt sich innerlich und gleicht das mit demonstrativ nach außen getragener moralischer Überlegenheit aus. »Ihr habt die Uhren, aber wir haben die Zeit«, sagte einst ein Marokkaner zu seinem französischen Kolonialherrn. Zum eigenen Schutz wird die Überlegenheit des anderen als Mythos erklärt, er wird zum Eindringling, mit dessen Bekämpfung man Scham in eine Mission verwandeln kann. Der andere wird auf eine Essenz reduziert, die für alles steht, was die Höhlenbewohner verabscheuen. Statt sich mit der Ambivalenz des Europäers zu beschäftigen, wird er immer zum unmoralischen Gespenst stilisiert. Auch Europäer spielen dieses Spiel gerne, wenn es um den Islam geht.
Platons Gleichnis schließt mit der Frage, was passierte, wenn einer der Gefangenen durch Gewalt aus der Höhle befreit würde. Zwar hätte er am Anfang Schwierigkeiten, sich ans Sonnenlicht zu gewöhnen, aber nach einer Weile würde er sich der neuen Umgebung anpassen. Sollte er zur Höhle zurückkehren, könnte er mit den Schattenbildern und Bewegungen nichts mehr anfangen. Die Art, wie er die Höhle deutet, und das, was in ihr geschieht, stünde dann in Konflikt zu der Wahrnehmung der Gefangenen. Man würde ihn und seine »verdorbenen Augen« auslachen. Von nun an würden sie jeden umbringen, der sie von den Fesseln lösen und ans natürliche Licht bringen wollte; ein Phänomen, das Erich Fromm »die Furcht vor der Freiheit« nennt. Denn der Mensch ist zwar auf diese Freiheit hin ausgerichtet, aber ob und wie er diese Freiheit verwirklicht, das hängt von seiner persönlichen und von der gesellschaftlichen Situation ab.
Manche Islamkritiker begehen den Fehler, das Kernproblem der islamischen Welt als ein Kampf zwischen Individualität und Gemeinschaft zu beschreiben. Allein das Individuum als Gegensatz der Gemeinschaft zu betrachten ist ein fataler Irrtum. Denn es sind die Ängste des Individuums vor der Einsamkeit und vor seinen eigenen unberechenbaren Trieben sowie sein Wunsch nach Nestwärme, Orientierung und Anerkennung, die das Funktionieren einer Gemeinschaft ermöglichen. Das Individuum entsteht nicht
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