Der Untergang der islamischen Welt
Verbündeten ein, eine Alternative zu ihnen gebe es nicht, außer den Islamisten, dem Gespenst, das keiner im Westen haben will. Dass es auch viele säkulare oppositionelle Stimmen gibt, die von den Regimen brutaler unterdrückt werden als die Islamisten, verschweigt man tunlichst. Im Gegenteil, es sind immer mehr Annäherungen zwischen Despoten und Gotteskriegern beobachtbar, sind beide doch der Demokratie gegenüber gleichermaßen unversöhnlich. Es kommt zu einer stillschweigenden Teilung: Die Machthaber haben die Kontrolle über die Ressourcen, die Islamisten über die Köpfe der Menschen; eine Allianz, die in Saudi-Arabien vor mehr als zweihundert Jahren begann und nun immer mehr zur Realität in den meisten Staaten der Region wird.
Auch im Iran ist man heute hinsichtlich des Gottesstaates als Utopie eher desillusioniert. Die islamische Revolution konnte ihr Versprechen von Milch und Honig nicht einlösen, und auch der lebendige Imam kann keine Wirtschaftswunder vollbringen. Sie sahen, dass die Idee der Freiheit, mit der die Revolution an die Macht kam, sich als eine brutale Diktatur entpuppte. In den meisten sunnitischen islamischen Staaten, in denen der Gottesstaat noch nicht verwirklicht wurde, wie in Ägypten, Marokko und Jordanien, argumentiert man, dass wir Muslime alle möglichen Modelle aus dem Westen und Osten von Nationalismus über Marxismus bis hin zum Kapitalismus ausprobiert haben. Diese Systeme haben keine Früchte in der islamischen Welt getragen, weil sie aus einer fremden Erde entrissen und bei uns eingepflanzt wurden, denn sie entsprachen unseren klimatischen Bedingungen nicht. Deshalb bleibt das Projekt »Medina Reloaded« wie so oft die letzte Rettung, nämlich die Rückkehr zum ersten Staatsmodell in der Zeit des Propheten. Und so bleibt die Revolution aus, oder sie mündet in ein menschenverachtendes System namens Scharia.
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Kultureller Inzest
oder: Eine Freistadt ohne
Freiheit!
E ine unfreiwillige Erfahrung mit einer geschlossenen Gesellschaft mitten in Europa verdeutlichte mir das Dilemma der islamischen Welt. Nein, es war keine Emigrantenenklave in Berlin oder Paris, sondern eine europäische Parallelgesellschaft namens »Freistadt Christiania« in Kopenhagen. Ich war im Sommer 2009 in der dänischen Hauptstadt, da meine Frau, die Halbdänin ist, dort an der Universität arbeitete. Mich besuchte dort der Journalist Henryk M. Broder, um mich für den »Spiegel« über mein letztes Buch zu interviewen. Das Interview dauerte mehrere Tage. Während einer Pause gingen wir in der Hafenstadt spazieren und landeten einmal bei Christiania; einer »befreiten« Zone, die 1971 von Hippies auf dem Boden eines ehemaligen Militärgeländes im Stadtteil Christianhavn besetzt wurde. Seitdem ist die Enklave eine Art Oase für linke Aussteiger, die zum neoliberalen Kapitalismus und Konsumterror der westlichen Gesellschaften eine Alternative anbieten wollten. Dort leben heute zwischen sieben- und elfhundert Menschen, die Christiania als unabhängige Stadt mit eigener Gesetzordnung, Flagge und sogar Währung sehen.
Meine Frau ist zwar in Kopenhagen geboren, war aber noch nie in Christiania und wusste wenig über diesen Teil der Stadt. Sie sagte nur, dass viele Dänen die Kolonie als Kult betrachten, viele wiederum dieses Stadtviertel meiden und dafür plädieren, es abzuschaffen. Wir kamen durch den Haupteingang nach Christiania hinein, und gelangten direkt zu der berüchtigten »Pusher Street«, dem Herzstück der Kolonie. Überall hingen Schilder, die das Fotografieren verbieten. In der »Freistadt«, die sich selbst als die letzte existierende Oase der wirklichen Freiheit und Gerechtigkeit sieht, ist sonst nichts verboten, außer Hunde an der Leine zu ziehen oder schnell in der Pusher Street zu laufen, und das hat seine Gründe. Denn in der Pusher Street befindet sich Dänemarks größter Drogenmarkt auf offener Straße, ein Millionengeschäft. Aber nur weiche Drogen wie Haschisch und Marihuana sind dort im Angebot, betonen die Christianiten immer wieder gerne.
Wer dabei erwischt wird, harte Drogen zu verkaufen oder zu konsumieren, wird aus der Stadt verbannt, erzählte mir später eine Lehrerin namens Benta, die seit 1984 in Christiania wohnt. Von ihr habe ich auch erfahren, dass die dänische Polizei sich in Christiania nicht einmischen darf. Benta erzählte, dass die Kolonie basisdemokratisch regiert wird. Wenn Konflikte auftauchen, treffen sich alle erwachsenen Männer und Frauen und
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