Der Untergang der islamischen Welt
scheint Altpersien immer noch zu leben. In den sunnitischen Staaten dagegen schaffte es der Islam, die vorislamische Periode als Zeit der
Dschahiliya,
der Dunkelheit und Unwissenheit, hinter sich zu lassen. Nach ihrer Konvertierung zum Islam übernahmen die Perser zwar die arabische Schrift, behielten aber die eigene Sprache, was ihnen sowohl einen Zugang zur eigenen Geschichte als auch zum Arabischen als Sprache der Wissenschaft im Mittelalter verschaffte. Die ersten Werke, die die Perser schrieben, nachdem sie den Islam angenommen hatten, waren Zarathustra-Schriften und das epische Buch
Shahnama,
das die Geschichte alter persischer Könige festhält. Die kulturelle Eigenständigkeit der Perser schützte sie vor einer Vereinnahmung durch die arabische Sippenkultur und garantierte eine historische Kontinuität, die im Nahen Osten und vielleicht sogar weltweit einmalig ist. Die Iraner haben ebenfalls eine starke Bindung an die islamische Mystik, die einzige Richtung, die das Hadern mit Gott zulässt. Andererseits deuten die Mystiker die Dinge der Welt so lange um, bis sie wiederum bei Gott angekommen sind, wie der Iranist Bert Fragner hervorhebt. Mystische Dichter wie Rumi und Hafez genießen im Iran fast die gleiche Stellung wie Mohamed. Hier sollte allerdings betont werden, dass auch die Mystik eine Art Opium für das Volk sein kann, da sie einen Rückzugsraum für passive Menschen bieten kann, die vor der Realität fliehen wollen.
Ein wesentlicher gesellschaftlicher Unterschied zwischen dem Iran und den meisten anderen islamischen Staaten liegt darin, dass im heutigen Iran die Bildung von Frauen fortgeschrittener ist. Eine zivile Gesellschaft und ein ausgeprägtes Öffentlichkeitsbewusstsein unter den Iranern sieht Bert Fragner als gute Voraussetzung für eine Modernisierung. Auch die Rolle der Literatur und der Philosophie in der iranischen Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Diese schafft eine Parallelsprache zur Sprache der Autorität und setzt die Theologie unter Druck, um mitzuziehen. Katajun Amirpur schreibt im »Spiegel«-Geschichtsheft über Persien, dass sich die Bücher von Jürgen Habermas und Hannah Arendt über »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« in Teheran anders lesen als sonst auf der Welt. Als Habermas den Iran im Jahr 2002 besuchte, wurde er wie ein Filmstar empfangen. Kein Wunder, dass die Theologie in Iran viel weiter ist als in den sunnitischen Staaten. Im Jahr 2004 traf ich bei einer Konferenz in Heidelberg den iranischen Theologen Abdulkarim Soroush, der zwischen der Religion einerseits und dem Verständnis von Religion andererseits unterscheidet. Das Wissen über Religion ist laut Soroush nicht heilig und ist deshalb wie jedes weltliche Wissen nicht nur kritisier-, sondern auch austauschbar. Nur in einer Demokratie gibt es echte Religiosität, denn Glauben ohne Freiheit ist kein Glauben, so Soroush. Bemerkenswert ist, dass Soroush einer der Vordenker der iranischen Revolution von 1979 war. Heute geht er einen völlig anderen Weg als das Mullah-Regime in Teheran. Sicher gibt es auch viele Theologen im Iran, die nicht nur buchstabentreu sind, sondern auch merkwürdige Gutachten geben, wie etwa ein gewisser Kassem Sidighi, der die Sünden unmoralischer Frauen für Erdbeben verantwortlich machte. Wie dem auch sei, in beiden Fällen bleibt die schiitische Theologie in den sunnitischen Staaten nicht akzeptiert, werden die Schiiten, die nur zehn Prozent aller Muslime ausmachen, in den Augen der Sunniten als Abtrünnige oder zumindest als nicht genuin islamisch angesehen.
Eine wichtige Rolle für den Unterschied zwischen schiitischer und sunnitischer Realität spielen auch die Exiliraner in Europa und den USA . Im Gegensatz zu den Sunniten sind sie im Westen nicht mit der Größe einer Moschee oder dem Erektionswinkel eines Minaretts beschäftigt und verstecken sich nicht hinter der Mauer der importierten Identität, sondern unterstützen die Demonstranten in ihrem Land sowohl finanziell als auch medial. Gleichzeitig schaffen sie es, dass das Thema Iran immer im Bewusstsein der westlichen Medien bleibt. Allein das Interesse des Westens an einem Regimesturz in Teheran macht vielen Iranern Hoffnung, dass zumindest von außen der Prozess der Veränderung nicht gebremst wird, zumindest nicht vom Westen. Die westlichen Mächte schmiedeten im Rahmen des Krieges gegen den Terror aber enge Allianzen mit den Diktatoren in den sunnitischen Staaten. Die Despoten im Nahen Osten flüsterten ihren
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