Der Untergang der islamischen Welt
aus dem Hausanbau anbot. Er erzählte uns, das Hauptproblem der Einwohner von Christiania sei, dass viele von ihnen in der Vergangenheit lebten und nicht verstehen wollten, dass Zeiten sich ändern. Er kämpfe dafür, die Stadt für Touristen zu öffnen und jedem Besucher eine Christiania-Münze im Wert von fünfzig Kronen (umgerechnet acht Euro) als Eintritt zu verkaufen, womit man in Christiania gefertigte Produkte kaufen könnte. Mit dieser Idee stößt er auf Widerstand, denn dies würde Kapitalismus bedeuten. Touristen würden sowieso jetzt schon kommen, aber man profitiert nicht von ihnen. Auf meine Frage, warum sie das Normalisierungsangebot der dänischen Regierung ablehnen, sagte er: »Normalisierung für die neoliberale Regierung bedeutet, uns zu kontrollieren und die vierunddreißig Hektar, die Christiania ausmachen, ans monetäre System anzuschließen. Und das würden wir nie zulassen.« Trotz messianischer Sprache überschätzt Karsten die Rolle seiner Gemeinschaft nicht. »Wir sind nur ein soziales Experiment, eine Idee, die die Menschen da draußen zum Nachdenken über ihre Art zu leben bringen könnte.« Den Grund dafür, warum die Enklave so lange Bestand hatte und warum sie angefeindet wird, sieht Karsten darin, dass die einen Dänen die Christianiten nicht als ihre Nachbarn in der Stadt haben wollen und sie deshalb unterstützen, damit sie im »Zoo« bleiben, und die anderen beneideten sie, weil sie stressfrei in Kopenhagens schönster Ecke lebten, und wollten deshalb die Stadt auflösen.
Als ich ihn auf die Pusher Street ansprach, war er offen. Er sei selbst früher Dealer gewesen, aber hatte aufgehört, weil er nicht durch eine Kugel sterben wollte. Auf die Frage, warum eine »Freistadt« das Fotografieren verbietet, sagte er: »Wir werden von außen gedrängt, uns so zu verhalten. Wir wollen in Ruhe gelassen werden, aber solche Fotos kann die Polizei gegen uns benützen.« – »Aber auch Henryk Broder hat von seiner Freiheit Gebrauch gemacht, als er in der Pusher Street fotografierte. Warum hat man ihn verprügelt?«, fragte ich. »Ach ja, dieser Idiot vom ›Spiegel‹? Selber schuld, Freiheit bedeutet doch nicht, Tennis auf der Autobahn zu spielen! Außerdem, selbst wenn du einen Busch in Afrika fotografieren willst und jemand dort dir ›Nein‹ sagt, musst du es akzeptieren!«, sagte er lachend. Auf die Frage, warum die Christianiten auf Blicke der Fremden misstrauisch reagieren, sagte er: »Die Besucher starren auf uns Affen und wissen nicht, dass auch die Affen auf sie starren!«
Trotz seiner Nüchternheit ist Karsten vom Konzept seiner Gemeinschaft sehr überzeugt und wünscht sich, dass ganz Dänemark wie Christiania würde. Die Welt würde friedlicher und sauberer sein. Diese Pax Christiania erinnert mich an das frühere islamische Verständnis vom Frieden. Damals unterteilte man die Welt in ein Haus des Krieges und in ein Haus des Islam. Frieden konnte nur herrschen, wenn die Islamisierung Einzug fand.
Doch in einem zentralen Punkt unterscheidet sich Christiania von der islamischen Idee, nämlich im Umgang mit der neuen Generation. Als ich Karsten fragte, ob er Kinder habe und ob sie auch in Christiania leben würden, teilte er mir mit, dass er eine Tochter habe, die aber außerhalb Christianias lebe. Sie sei ausgezogen aus dem gleichen Grund, der ihren Vater damals zum Einzug bewegt habe: Sie wollte nicht wie ihre Eltern leben. Aber sie ist trotzdem Christianitin im Herzen, wie viele Dänen, sie kommt und bringt frischen Wind und geht bald wieder, sagte er abschließend und blickte zufrieden, als habe er den Sinn dieser Enklave gerade neu erfunden.
Und an dieser Stelle sehe ich das größte Defizit des Islam, nämlich seine Haltung zur Individualität und persönlichen Entfaltung. Das Beharren auf Normen und Lebensformen, die im 21 . Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß sind, macht es vielen Muslimen schwer, sich als eine Minderheit in einer säkularen Gesellschaft einzugliedern. Dass jeder tun und lassen kann, was er möchte, bedroht aus islamischer Sicht die Gemeinschaft. Gerade die Geschlechter-Apartheid und die Entmündigung der Frau halte ich für die größte Sünde. Nun baut aber die moderne Zivilisation gerade darauf, dass das Glück des Einzelnen die Voraussetzung dafür ist, dass die Gemeinschaft funktioniert. Das nur als Gefahr zu sehen fördert die Abschottung. Dass das selbstbestimmte Leben der Kinder, vor allem der Töchter, nicht als Chance, sondern als Bedrohung
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