Der Untergang der islamischen Welt
Beide unterscheiden sich nur marginal. Und so herrschte vor allem unter den Sunniten der Konsens, eine Revolte gegen den Machthaber ist auch eine Revolte gegen Gott, denn sie öffne den Weg zu Spaltung und Verwirrung der
Umma,
der religiösen Gemeinschaft aller Muslime. Die Vorlage dafür liefert der Koran in zwei Passagen: Die eine sagt: »Seid Gott, seinem Propheten und den Befehlshabern unter euch gehorsam«, die andere warnt: »Verwirrung ist schlimmer als Mord.« Das Wort für Verwirrung im Arabischen,
fitna,
ist das gleiche Wort für Spaltung und Verführung durch eine Frau. Dazu später mehr.
Ein Herrscher darf aber durch einen neuen Herrscher ersetzt werden, nicht aber durch eine Massenerhebung. Bald einigten sich die sunnitischen Gelehrten darauf, dass ein Herrscher die Macht durch Konsens der
Ulama’a,
also der Gelehrten, durch Erbe oder durch Gewalt erobern kann. Die Herrscher sollten das unter sich ausmachen, und die Untertanen haben sich dem neuen Machthaber zu unterwerfen. Das erklärt, warum es fast nie zu einer Massenerhebung in der islamischen Welt kam, abgesehen von wenigen sporadischen Revolten, die sich gegen Steuererhöhungen oder Lebensmittelknappheit richteten. Immer wurden muslimische Herrscher, egal auf welchem Wege sie an die Macht gekommen waren, von den religiösen Anführern gestützt.
Bis heute ist ein Bestandteil der Freitagspredigt in jedem islamischen Land ein Gebet für den Herrscher, möge Gott ihm zur Seite stehen. Auch Napoleon erkannte dies und verbündete sich mit einigen Gelehrten der Al-Azhar-Moschee, um den Aufstand der Ägypter zu unterbinden. Diese sagten, Napoleon sei ein Befehlshaber, dem man laut Koran gehorsam sein sollte, und es hat funktioniert. Die Umdeutung der religiösen Texte zugunsten der Machthaber hat eine lange Tradition in der islamischen Welt. Auch in der modernen Zeit braucht jeder Herrscher, egal wie säkular er sich gibt, die Marionettengelehrten, die alles, was der Herrscher will, als islamisch, praktisch und gut bezeichnen. So erklärten die Gelehrten in den Zeiten Nassers, der marxistisch-sozialistisch ausgerichtet war, den Islam zur Religion der sozialen Gerechtigkeit und des Kampfes gegen Ausbeutung und Mohamed, also lange vor Marx, quasi als den Begründer des Sozialismus. Als Sadat das Land Richtung Westen öffnen und die Wirtschaft liberalisieren wollte, war der Islam plötzlich die Religion der Freiheit des Besitzes. Gewinnmaximierung wurde auch als islamisch bezeichnet, war der Prophet selber doch ein erfolgreicher Händler gewesen. Eine
Fatwa
(ein religiöses Gutachten und
nicht
ein Mordurteil, wie viele sie übersetzen), welche die Bankzinsen für islamkonform erklärte, wurde von Al-Azhar sogar ausgestellt, obwohl Zinsen unmissverständlich im Koran verboten sind. In Zeiten des Krieges mit Israel war der Islam die Religion des Dschihad, und die Juden waren die ewigen Feinde Allahs. Als Sadat sich mit dem ungeliebten Nachbarn versöhnen wollte, war der Islam die Religion des Friedens und der Vergebung.
Nur im schiitischen Iran kam es alleine innerhalb der letzten dreißig Jahre zweimal zur Massenerhebung; einmal schaffte es die religiöse Studentenbewegung, den Schah zu entmachten und den Imam Khomeini an die Macht zu bringen, und ein weiteres Mal gingen die Massen auf die Straße, um die Macht Ahmadineschads in Teheran zu stürzen. Das liegt daran, wie bereits angedeutet, dass der Schia-Islam selbst als eine Revolution geboren wurde und seit seiner Entstehung keine theologischen Bedenken gegen den Widerstand hatte. Im Iran gibt es auch eine sichtbare religiöse Macht, die der Klerus der Mullahs verkörpert, während es im sunnitischen Islam keine zentrale Macht gibt, die alle Entscheidungen in der Hand hätte.
Die oft gepriesene Vielfalt des Islam ist auch oft Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Die Anpassungsfähigkeit der Theologie macht den Islam gleichzeitig zur Religion des Dschihad und des Friedens, des Verlangens nach Wissen und der Hexenverbrennung. Das macht ihn nicht greif- oder angreifbar. »Es ist eine Frage der Auslegung«, lautet die Fluchtformel, wenn man den Islam für die heutige Misere verantwortlich machen will. Es mag auch daran liegen, dass viele Iraner immer noch eine Distanz zum Islam haben, da sie die Verbindung zur vorislamischen persischen Kultur bewahren. Das drückt sich in den vielen persischen Vornamen aus, die gar nicht islamisch sind.
Im kollektiven Gedächtnis der Iraner und in der Poesie
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