Der Untergang der islamischen Welt
beraten darüber, bis ausnahmslos alle eine gemeinsame Entscheidung treffen. Ein Verfahren, das Wochen und Monate dauern kann. Bewohnern, denen schwere Vergehen nachzuweisen sind, werden entweder für immer oder für eine bestimmte Zeit aus der Stadt verbannt. Einen persönlichen Besitz gibt es angeblich in Christiania nicht, Gehälter auch nicht. Alle arbeiten in eine Gemeinschaftskasse, die unter allen Bewohnern gerecht verteilt würde. Auf meine Frage, ob das auch für die Drogendealer in der Pusher Street gelte, schluckte Benta und gab mir keine klare Antwort. Ganz offensichtlich wird die Mehrzahl der Bewohner, die arbeitslos ist, von den Dealern mit Naturalien für ihr Schweigen bezahlt. Von Freiheit habe ich in Christiania nichts gespürt. Die benebelten skeptischen Blicke der Christianiten, die sich auf jeden Fremden richten, der die Kolonie betritt, und die Verbotsschilder vermittelten mir eher die Atmosphäre eines Big-Brother-Containers im Drogenrausch. Broder ist ein Vollblutjournalist und roch, seitdem wir die Stadt betraten, die Möglichkeit einer spannenden Reportage. Er ließ sich von Verbotsschildern nicht beeindrucken und fing an, zu knipsen. Mehrmals wurde er von Passanten oder Wächtern, die auf kleinen Aussichtstürmen an der Kreuzung zur Pusher Street Stellung nahmen, gewarnt, dass das Fotografieren für ihn böse enden könnte. Aber irgendwie nahm er diese Warnung nicht ernst, kam sie doch von vollkommen betrunkenen Christianiten. Dies war sein größter Fehler und dafür musste er zahlen. Plötzlich tauchte ein großer muskulöser junger Dealer auf und bat ihn zunächst freundlich, ihm die Bilder zu zeigen, die er gerade schoss. Broder weigerte sich und versteckte die Kamera hinter seinem Rücken. Somit bestätigte sich der Verdacht des Dealers, er habe ihn beim Dealen fotografiert. Er zerrte an Broder und versuchte, ihm die Kamera gewaltsam wegzunehmen. »Du Idiot, gib ihm doch die Kamera, oder willst du sterben?«, riefen einige Christianiten, die zunächst unbeteiligt schienen. Als sich Broders Aufstand fortsetzte, eilten dem Dealer mehrere junge Männer zu Hilfe und warfen Broder zu Boden. Meine Frau und ich versuchten, ihn aus ihren Händen zu befreien, was uns nicht gelang. Hartnäckig und verbissen verteidigte der am Boden liegende Broder seine Kamera, die er in seiner Hosentasche versteckte, und gnadenlos schlugen die Dealer auf ihn ein. Ich sah vor mir einen erbitterten Kampf zwischen zwei radikalen Auffassungen von Freiheit, den Broder bravourös verlor. Am Ende blieb den jungen Dealern nichts anderes übrig, als ihm die Hose aufzureißen, um ihm die Kamera wegzunehmen. Ohne sich die Bilder anzuschauen, warf einer von ihnen sie sofort in eine brennende Mülltonne. Broders Kampfgeist schien jedoch noch nicht gebrochen zu sein. Er stand auf, rannte zur Mülltonne und versuchte, seine Kastanie aus dem Feuer zu holen. Vergeblich, denn sie schmorte bereits.
Man könnte sagen, dass er sich die Finger an der Freiheit verbrannt hatte. Mit verletzter Hand und aufgerissener Hose verließ er mit uns die »Freistadt«, gefolgt von aggressiven Rufen: »Idiot!« Er ging mit uns zur ersten Polizeistation, die vier Kilometer außerhalb von Christiania lag, und bat den Beamten, mit ihm in die Freistadt zu gehen, um diejenigen zu identifizieren, die ihn angegriffen und seine Kamera gestohlen hatten. Die Beamten gaben ihm zu verstehen, dass dies nicht ginge, weil sie fünfzig bewaffnete Männer brauchen, um in Christiania zu bestehen, und das täten sie nur, wenn es sich um Mordfälle handele. Oft kam es zu Bombenexplosionen in den Cafés von Christiania, und oft wurden Menschen auf offener Straße dort erschossen. Revierkämpfe und Erpressungen hätten den Staat zum Handeln gedrängt, aber viel war dabei nicht herausgekommen. Vor einigen Jahren versuchten die Sicherheitskräfte, mit einem großen Polizeiaufgebot nach einer Gerichtsentscheidung die Kolonie aufzulösen, doch sie scheiterten am Widerstand der randalierenden Christianiten. Nicht einmal in Zivil können vereinzelte Beamte heute dorthin gehen, denn die Dealer haben Fotos von allen Polizeibeamten von Kopenhagen aufgehängt, so dass sie sofort erkannt werden. Wir verließen die Polizeistation ohne Erfolg. Plötzlich blieb Broder stehen und sagte lächelnd: »Lasst uns Eis essen gehen!« Meine Frau fragte ihn: »Geht es Ihnen gut?« – »Ja, mir geht es prima, ich hatte schon meine Übungen heute Nachmittag, und jetzt fühle ich mich
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