Der Untergang der Telestadt
dessen Dach eingestürzt war, ein außerordentlich massiver Wall errichtet wurde, der unverhältnismäßig viel Beton verbrauchte und bei dessen Bau fast alle verbliebenen automatisch gesteuerten Maschinen eingesetzt waren.
Bis dann der Rat zu einer Versammlung aller Einwohner von Ziel aufrief, bei Einstellung jeglicher Arbeiten. Da mußte schon, das war jedem bewußt, der zum Rathaus eilte, etwas Außergewöhnliches vorliegen. Für gewöhnliche Informationen gab es in der Stadt den Drahtfunk. Kein Wunder also, daß Spannung über der Menge lag. Es ging nicht laut zu, die Gesichter waren ernst. Kurze Fragen unter Bekannten: »Weißt du?« Schulterzucken…
Punkt fünfzehn Uhr trat Gus aus dem Rathaus und ließ sich von einer Kranbühne wenige Meter über die Köpfe der Menschen heben. Es trat sofort niederschmetternde Stille ein.
Gus sprach langsam und in einem Tonfall, der jeden Zweifel am Ernst des Inhalts seiner Worte ausschloß: »Bürger von Ziel, Freunde! Bei der Explosionskatastrophe am dritten des Vormonats wurde der Laborkom plex drei stark beschädigt. Es befand sich dort der größere Teil des von der Erde mitgebrachten strahlenden Materials. Erörterungen, ob es dort unter den Bedingungen richtig gelagert war, führen jetzt zu nichts. Einer der zwei Behälter wurde durch das. einstürzende Dach leck.
Wir glaubten die Lage zu beherrschen. Das war ein Irrtum. Heute früh erhielten wir Gewißheit, daß das Grundwasser in Mitleidenschaft gezogen ist. Wir haben alles bedacht. Eine Entsorgung überschreitet unsere Kräfte. Gesundheitsschädigende Einflüsse schreiten fort. Wir müssen uns entschließen…«, Gus hob die Stimme, sah in die Menge, als suche er den Blick jedes einzelnen, »die Stadt – kurzfristig – aufzugeben. Wir siedeln nach Seestadt, ein Plan ist vorbereitet. Der Rat bittet um äußerste Disziplin. Die Aktion beginnt morgen früh, weitere Informationen und Benachrichtigungen erfolgen über den Drahtfunk…« Gus beendete seine Ausführungen so, als sei ihm das Konzept abhanden gekommen. Erneut blickte er über die Menge.
Ein brausendes Gemurmel erhob sich, unverständliches Rufen…
Aber ebenso schnell ebbte es wieder ab. Abermals verbreitete sich die unheilvolle Stille.
Niemand machte Anstalten zu gehen, obwohl, so empfand ich, Gus alles gesagt hatte, was zu sagen war.
Gus selbst mußte ebenso empfinden. Er stand unschlüssig. Dann sprach er verunsichert: »Das, Freunde, ist alles. Schlimm, ich, wir wissen das. Aber wir fangen in Seestadt nicht bei Null an. Ein Rückschlag freilich, aber wir werden ihn überwinden. Die Strahlung ist vielerorts nicht so weit vorgedrungen. Noch können wir das meiste aus Ziel nach Seestadt umsetzen. Aber wir müssen uns beeilen. Geht und bereitet vor!« Es war eines der schlimmsten Bilder, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Wortlos, mit hängenden Köpfen und ausdruckslosen Gesichtern die meisten, zerstreuten sich die Menschen. Unschlüssig standen manche in Gruppen, ohne miteinander zu sprechen. Das Geplapper einiger Kinder, die die Tragweite des Gehörten nicht erfaßt hatten, betonte eher noch die drückende Atmosphäre. Ich hatte den Eindruck, es geschähe etwas Unwirkliches, Gespenstisches…
So starb das gerade Geborene, das eine neue Ewigkeit leben sollte… So ging unsere City von Neuerde zugrunde. Und in der Tat, schon vier zehn Tage nach der denkwürdigen Ansprache von Gus lag die Stadt verödet, zum größten Teil des noch Brauchbaren beraubt da. Nur die Brotfabrik lief noch, und deshalb erlebte ich den Abbruch unmittelbar. Wir hatten so lange zu produzieren, bis in Seestadt die neuen Fundamente für das schnelle Umsetzen der Maschinen fertiggestellt sein würden. Und noch tiefere Einsichten und höhere Leistungen wurden verlangt, und kein Protest kam auf, obwohl jeder wußte, keine Macht der Welt würde es packen, die Vorhaben zu den geplanten Terminen zu realisieren. Die verbliebenen Energieträgervorräte wurden gebraucht, um wieder einmal, und diesmal umfassender als nach der Explosion, das nackte Leben zu schützen. Keiner forderte mehr den Funkkontakt zur Erde, keiner die Wiederaufnahme des vollen Schulunterrichts, des Studienbetriebes.
Für mich war das das Ende in zweifacher Hinsicht: Ich verlor meinen Arbeitsplatz, weil die Fabrik dem zentralen Dispatcherdienst unterstellt wurde, und ich bekam einen Laboratoriumsplatz zugeteilt mit dem Auftrag, tagaus, tagein Analysen der Spritmangrove herzustellen. Ihr Zukkergehalt war
Weitere Kostenlose Bücher