Der Untergang des Abendlandes
den Polen des Sinnenlebens, und diese Entzweiung wird durch den Rhythmus des Nachahmens überbrückt. Jede Religion ist ein Hinüberwollen der wachen Seele zu den Mächten der Umwelt, und ganz dasselbe will die in ihren weihevollsten Momenten ganz religiöse Imitation. Denn es ist ein und dieselbe innerliche Bewegtheit, in welcher Leib und Seele hier und die Umwelt dort zusammenschwingen und eins werden. Wie ein Vogel sich im Sturme wiegt und ein Schwimmer dem schmeichelnden Wellenschlag nachgibt, so fährt bei den Klängen einer Marschmusik ein unwiderstehlicher Takt in die Glieder, und ebenso ansteckend wirkt das Nachmachen fremder Mienen und Bewegungen, worin gerade Kinder Meister sind. Das kann sich bis zu jener »hinreißenden« Wirkung gemeinsamer Gesänge, Marschbewegungen und Tänze steigern, die aus vielen einzelnen eine Einheit des Fühlens und Ausdrucks, ein »Wir« macht. Aber auch ein »gut getroffenes« Bildnis eines Menschen oder einer Landschaft entsteht aus dem gefühlten Einklang der zeichnenden Bewegung mit dem geheimen Schwingen und Weben des lebendigen Gegenüber. Das ist physiognomischer Takt, der
wirksam
wird, der einen Kenner voraussetzt, welcher im Spiel der Oberfläche die Idee, die
Seele
des Fremden entschleiert. In gewissen, hingegebenen Augenblicken sind wir alle Kenner dieser Art, und dann offenbaren sich uns, indem wir der Musik oder einem Mienenspiel mit unmerklichem Rhythmus folgen, plötzlich Geheimnisse von jäher Tiefe. Alle Nachahmung will
täuschen
, und täuschen kommt von Tausch. Dieses Sich-hinein-versetzen in ein fremdes »es«, das Vertauschen des Ortes und Wesens, wonach der eine nun im andern lebt, ihn darstellend oder schildernd, weckt ein Vollgefühl des Einklangs, das sich von schweigendem Selbstvergessen bis zu ausgelassenstem Gelächter steigert und bis in die letzten Gründe des Erotischen hinabgreift, das von künstlerischer Schöpferkraft nicht zu trennen ist. So entstehen die kreisenden Volkstänze – als Nachahmung der Liebeswerbung des Auerhahns ist der bayerische Schuhplattler entstanden; aber ganz dasselbe meinte auch Vasari, wenn er Cimabue und Giotto lobt, weil sie als erste wieder »die Natur« nachgeahmt hätten, jene Natur früher Menschen nämlich, von der damals Meister Eckart sagte: »Gott fließt in alle Kreaturen aus, und darum ist alles Geschaffene Gott.« Was wir als Bewegung in dieser Umwelt schauen und damit in seiner innern Bedeutung erfühlen, das geben wir durch Bewegung wieder. Deshalb ist alle Imitation ein Schau-spielen im umfassendsten Sinne. Wir geben ein Schauspiel durch die Bewegung des Pinselstrichs oder Meißels, durch die Stimmführung des Gesangs, den Erzählerton, den Vers, die Darstellung, den Tanz. Aber was wir mit und unter dem Sehen und Hören
erleben
, ist immer eine fremde Seele, mit der wir uns vereinigen. Erst die zerdachte und entseelte Kunst der Weltstädte geht zum Naturalismus im heutigen Sinne über: Nachahmung der Reize des Augenscheins, des wissenschaftlich feststellbaren Bestandes von sinnlichen Kennzeichen.
Von der Imitation hebt sich nun deutlich das Ornament ab, das dem Flusse des Lebens nicht folgt, sondern
starr entgegentritt
. Statt physiognomischer Züge, die dem fremden Dasein abgelauscht werden, gibt es feststehende Motive,
Symbole
, die man ihm aufprägt. Man will nicht täuschen, sondern beschwören. Das Ich überwältigt das Du. Nachahmen ist nur ein
Sprechen
, dessen Mittel aus dem Augenblick geboren sind und sich nicht wiederholen; die Ornamentik aber
bedient
sich einer vom Sprechen abgelösten
Sprache
, eines Formenschatzes, der Dauer besitzt und der Willkür des einzelnen entzogen ist. [Vgl. Bd. II, S. 695f. Z. folg. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 66ff.]
Nachahmen, nachbilden läßt sich nur
Lebendiges
, und zwar in Bewegungen, durch die es sich für die Sinne von Künstlern und Zuschauern offenbart. Insofern gehört die Imitation der Zeit und Richtung an; all dieses Tanzen, Zeichnen, Darstellen, Schildern für Auge und Ohr ist unwiderruflich gerichtet, und die höchsten Möglichkeiten der Imitation liegen deshalb im Nachbilden eines Schicksals, sei es in Tönen, Versen, im Bildnis oder in einer gespielten Szene. [Weil Nachahmung Leben ist, so ist sie im Augenblick ihrer Vollendung auch schon vergangen – der Vorhang fällt – und verfällt entweder der Vergessenheit oder, wenn ein dauerhaftes Kunstwerk das Ergebnis war, der Kunstgeschichte. Von den Gesängen und Tänzen alter
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