Der Untergang des Abendlandes
an das leibliche Auge wendet, so wenig die raumspannende Musik seit Bach an das leibliche Ohr. Das antike Verhältnis zwischen Kunstwerk und Sinnesorgan, an das hier immer, und zwar durchaus nicht in richtiger Weise, gedacht wird, ist ein ganz anderes, viel einfacheres und stofflicheres als das unsrige. Wir
lesen
Othello und Faust, wir studieren Partituren, das heißt, wir wechseln den Sinn, um den Geist dieser Werke ganz rein auf uns wirken zu lassen. Hier wird von den äußeren Sinnen immer an die »inneren«, an die echt faustische und ganz unantike Einbildungskraft appelliert. Der unendliche Szenenwechsel Shakespeares gegenüber der antiken Einheit des Ortes ist nur so zu verstehen. Im äußersten Falle, wie gerade beim Faust, ist eine den Gehalt des Ganzen erschöpfende, wirkliche Darstellung gar nicht möglich. Aber auch in der Musik, schon im A-cappella-Vortrag des Palestrinastils und dann im höchsten Maße in den Passionen von Heinrich Schütz, den Fugen Bachs, den letzten Quartetten Beethovens und dem Tristan erleben wir
hinter
dem sinnlichen Eindruck eine ganze Welt andrer, in der erst alle Fülle und Tiefe zum Vorschein kommt und über die sich nur in übertragenen Bildern – denn die Harmonik zaubert uns da blonde, braune, düstre, goldige Farben, Dämmerungen, Gipfelreihen ferner Gebirge, Gewitter, Frühlingslandschaften, versunkene Städte, seltsame Gesichter hin – reden und etwas mitteilen läßt. Es ist kein Zufall, daß Beethoven seine besten Werke geschrieben hat, als er taub war. Damit hatte sich gleichsam die letzte Fessel gelöst. Für diese Musik sind Sehen und Hören
gleichmäßig
eine Brücke zur Seele, nicht mehr. Dem Griechen ist diese visionäre Art des Kunstgenießens ganz fremd. Er
betastet
den Marmor mit dem Auge; er wird von dem pastosen Klang des Aulos fast
körperlich
berührt. Auge und Ohr sind für ihn Empfänger des
ganzen
gewollten Eindrucks. Uns waren sie es schon in der Gotik nicht mehr.
In Wirklichkeit sind Töne etwas Ausgedehntes, Begrenztes, Zahlenmäßiges so gut wie Linien und Farben; Harmonie, Melodie, Reim, Rhythmus so gut wie Perspektive, Proportion, Schatten und Kontur. Der Abstand zwischen zwei Arten von Malerei kann unendlich viel größer sein als der zwischen einer gleichzeitigen Malerei und Musik. Gegenüber einer Statue des Myron gehören eine Landschaft von Poussin und die pastorale Kammerkantate seiner Zeit, gehören Rembrandt und die Orgelwerke von Buxtehude, Pachelbel und Bach, Guardi und die Opern Mozarts zu ein und derselben Kunst. Ihre
innere
Formensprache ist in dem Grade identisch, daß der Unterschied optischer und akustischer Mittel dagegen verschwindet.
Der Wert, welchen die Kunstwissenschaft von jeher auf eine zeitlose begriffliche Abgrenzung der einzelnen Kunstgebiete gelegt hat, beweist lediglich, daß man in die Tiefe des Problems nicht eingedrungen ist. Künste sind Lebenseinheiten, und Lebendiges läßt sich nicht zerstückeln. Nach den alleräußerlichsten Kunstmitteln und Techniken das unendliche Gebiet in vermeintlich ewige Einzelstücke – mit unwandelbaren Formprinzipien! – zu zerlegen, das war immer der erste Schritt gelehrter Pedanten. Man trennte »Musik« und »Malerei«, »Musik« und »Drama«, »Malerei« und »Plastik«, dann definierte man »die« Malerei, »die« Plastik, »die« Tragödie. Aber die technische Formensprache ist nicht viel mehr als die
Maske
des eigentlichen Werkes. Stil ist nicht, wie der flache Semper – ein echter Zeitgenosse Darwins und des Materialismus – meinte, das Produkt von Material, Technik und Zweck. Er ist im Gegenteil das, was dem Kunstverstand gar nicht zugänglich ist, die Offenbarung von etwas Metaphysischem, ein geheimnisvolles Müssen, ein Schicksal. Er hat mit den materiellen Grenzen der Einzelkünste nicht das geringste zu schaffen.
Eine Einteilung der Künste nach den Bedingungen der Sinnenwirkung an die Spitze stellen, heißt also, das Problem der Form von vornherein verderben. Wie konnte man »die Plastik« ganz allgemein als Gattung annehmen und aus ihr allgemeine Grundgesetze entwickeln wollen? Was ist »Plastik«? »Die« Malerei – das gibt es nicht. Wer nicht fühlt, daß Handzeichnungen von Raffael und Tizian, von denen der eine mit Umrissen, der andre mit Licht- und Schattenflecken arbeitet, zu zwei verschiedenen Künsten gehören, daß die Kunst Giottos oder Mantegnas und die Vermeers oder Van Goyens kaum etwas miteinander zu tun haben, daß der eine mit dem
Weitere Kostenlose Bücher