Der Untergang des Abendlandes
Pinselstrich eine Art Relief, der andre eine Art Musik auf der farbigen Fläche ins Leben rief, während ein Fresko Polygnots und ein ravennatisches Mosaikgemälde nicht einmal durch das Werkzeug der Gattung eingefügt werden können, der wird die tieferen Fragen nie begreifen. Und was hat eine Radierung mit der Kunst Fra Angelicos, was ein protokorinthisches Vasenbild mit einem gotischen Domfenster, was ein ägyptisches Relief mit einem solchen des Parthenon zu tun?
Wenn eine Kunst Grenzen hat – Grenzen ihrer formgewordenen
Seele
–, so sind es
historische
, nicht technische oder physiologische. [Die Folge unserer gelehrten Methoden ist eine Kunstgeschichte unter Ausschluß der Musikgeschichte. Jene gehört zum Bestand der höheren Bildung, diese ist eine Angelegenheit von Fachkreisen geblieben. Das ist nicht anders, als wollte man eine griechische Geschichte unter Ausschluß Spartas schreiben. Aber damit wird die Theorie »der« Kunst zu einer gutgläubigen Fälschung.] Eine Kunst ist ein Organismus, kein System. Es gibt keine Kunstgattung, die durch alle Jahrhunderte und Kulturen geht. Selbst wo vermeintliche technische Traditionen – wie im Falle der Renaissance – den Blick zunächst täuschen und von einer ewigen Gültigkeit antiker Kunstgesetze zu zeugen scheinen, herrscht in der Tiefe völlige Verschiedenheit. Es gibt
nichts
in der griechisch-römischen Kunst, was mit der Formensprache einer Statue Donatellos, einem Gemälde Signorellis, einer Fassade Michelangelos verwandt wäre.
Innerlich
verwandt mit dem Quattrocento ist ausschließlich die gleichzeitige Gotik. Wenn ägyptische Bildnisse auf den archaischen griechischen Apollotypus oder etruskische Grabmalereien auf frühtoskanische Darstellungen »gewirkt« haben, so bedeutet das nichts anderes, als wenn Bach eine Fuge über ein fremdes Thema schreibt, um zu zeigen, was er damit ausdrücken kann. Jede Einzelkunst, die chinesische Landschaft wie die ägyptische Plastik und der gotische Kontrapunkt, ist
einmal
da und kehrt mit ihrer Seele und Symbolik nie wieder.
2
Der Begriff der Form erfährt hier eine mächtige Erweiterung. Nicht nur das technische Werkzeug, nicht nur die Formensprache,
die Wahl der Kunstgattung selbst
ist ein Mittel des Ausdrucks. Was für den einzelnen Künstler die Schöpfung eines Hauptwerkes, für Rembrandt die »Nachtwache«, für Wagner die »Meistersinger« bedeuten, eine Epoche nämlich, das bedeutet für die Lebensgeschichte einer Kultur die Schöpfung einer Kunst
art
, als Ganzes begriffen. Jede dieser Künste ist ein Organismus für sich, ohne Vorgänger und Nachfolger, wenn man vom Äußerlichsten absieht. Alle Theorie, Technik, Konvention gehört zu ihrem Charakter und besitzt nichts Ewiges und Allgemeingültiges. Wann eine dieser Künste beginnt, wann sie erlischt, ob sie erlischt, ob sie in eine andre verwandelt wird, warum die eine oder andre unter den Künsten einer Kultur fehlt oder vorherrscht, das alles gehört noch mit zur Form im höchsten Sinne, ebenso wie jene andre Frage, warum der einzelne Maler oder Musiker – ohne sich dessen bewußt zu sein – auf bestimmte Farbentöne und Harmonien Verzicht leistet und andre so bevorzugt, daß man ihn daran erkennt.
Die Theorie, auch noch die der Gegenwart, hat die Bedeutung dieser Gruppe von Fragen nicht erkannt. Und trotzdem gibt erst diese Seite einer Physiognomik der Künste den Schlüssel zu ihrem Verständnis. Man hat bis jetzt alle Künste – unter Voraussetzung der erwähnten »Einteilung« – ohne irgendwelche Nachprüfung dieser schwerwiegenden Frage für möglich gehalten, immer und überall, und wo die eine oder andre fehlte, schrieb man es dem zufälligen Mangel an schöpferischen Persönlichkeiten oder an Forderung durch Umstände und Mäcene zu, die geeignet waren, »die Kunst« »auf ihrem Wege weiter zu führen«. Das ist es, was ich die Übertragung des Kausalitätsprinzips aus der Welt des Gewordnen auf die Welt des Werdens nannte. Weil man kein Auge für die ganz andersartige Logik und Notwendigkeit des Lebendigen, für das
Schicksal
und das nicht zu Vermeidende und
nie zu Wiederholende
seiner Ausdrucksmöglichkeiten hatte, zog man handgreifliche, an der Oberfläche liegende Ursachen heran, um eine oberflächliche Folge von kunsthistorischen Ereignissen zu konstruieren.
Es war gleich zu Anfang auf die flache Vorstellung einer linienhaften Fortentwicklung »der Menschheit« durch Altertum, Mittelalter und Neuzeit hingewiesen worden, die uns
Weitere Kostenlose Bücher