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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange,
die Welt als Geschichte
genannt wird. Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordene, herausbildete, wie es der »Wilhelm Meister« und »Wahrheit und Dichtung« zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die Welt als Mechanismus der Welt als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er als Naturforscher schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen, Vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie – das waren seine Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen.
Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt
. Es gibt keine andern. Dieser
göttliche
Blick ließ ihn am Abend der Schlacht von Valmy am Lagerfeuer jenes Wort aussprechen: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Kein Heerführer, kein Diplomat, von Philosophen zu schweigen, hat Geschichte so unmittelbar werden gefühlt. Es ist das tiefste Urteil, das je über einen großen Akt der Geschichte in dem Augenblick ausgesprochen wurde, wo er sich vollzog.
    Und so wie er die Entwicklung der Pflanzenform aus dem Blatt, die Entstehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen Schichten verfolgte –
das Schicksal der Natur, nicht ihre Kausalität
– soll hier die Formensprache der menschlichen Geschichte, ihre periodische Struktur, ihre
organische
Logik aus der Fülle aller sinnfälligen Einzelheiten entwickelt werden.
    Man hat sonst den Menschen den Organismen der Erdoberfläche zugerechnet und mit Grund. Sein Körperbau, seine natürlichen Funktionen, seine ganze sinnliche Erscheinung: alles gehört einer umfassenden Einheit an. Nur hier macht man eine Ausnahme, trotz der tiefgefühlten Verwandtschaft des Pflanzenschicksals mit dem Menschenschicksal – einem ewigen Thema aller Lyrik, trotz der Ähnlichkeit aller menschlichen Geschichte mit der jeder andern Gruppe höherer Lebewesen – einem Thema unzähliger Tiermärchen, Sagen und Fabeln.
Hier
vergleiche man, indem man die Welt menschlicher Kulturen rein und tief auf die Einbildungskraft wirken läßt, nicht indem man sie in ein vorgefaßtes Schema zwängt; man sehe in den Worten Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall, die bis jetzt regelmäßig und heute mehr denn je der Ausdruck subjektiver Wertschätzungen und allerpersönlichster Interessen sozialer, moralischer oder ästhetischer Art waren, endlich objektive Bezeichnungen organischer Zustände; man stelle die antike Kultur als in sich abgeschlossene Erscheinung, als Körper und Ausdruck der antiken Seele neben die ägyptische, indische, babylonische, chinesische, abendländische und suche das Typische in den wechselnden Geschicken dieser großen Individuen, das Notwendige in der unbändigen Fülle des Zufälligen, und man wird endlich das Bild der Weltgeschichte sich entfalten sehen, das uns, den Menschen des Abendlandes, und uns allein natürlich ist.

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    Kehren wir zur engeren Aufgabe zurück, so ist aus diesem Weitblick die westeuropäisch-amerikanische Lage zunächst zwischen 1800 und 2000 morphologisch zu bestimmen. Das Wann dieser Zeit innerhalb der abendländischen Gesamtkultur, ihr Sinn als biographischer Abschnitt, der in irgend einer Gestalt mit Notwendigkeit in jeder Kultur anzutreffen ist, die organische und symbolische Bedeutung ihrer politischen, künstlerischen, geistigen, sozialen Formensprache soll festgestellt werden.
    Eine vergleichende Betrachtung ergibt die »Gleichzeitigkeit« dieser Periode mit dem Hellenismus, und zwar im besonderen die ihres augenblicklichen Höhepunktes – bezeichnet durch den Weltkrieg mit dem Übergang der hellenistischen in die Römerzeit. Das
Römertum
, von strengstem Tatsachensinn, ungenial, barbarisch, diszipliniert, praktisch, protestantisch,
preußisch
, wird uns, die wir auf Vergleiche angewiesen sind, immer den Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zukunft bieten.
Griechen und Römer – damit scheidet sich auch das Schicksal, das sich für uns schon vollzogen hat, von dem, welches uns
bevorsteht
. Denn man hätte längst im »Altertum« eine Entwicklung finden können und sollen, die ein vollkommenes Gegenstück zur eignen, westeuropäischen, bildet, in jeder Einzelheit

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