Der Untergang des Abendlandes
kennen zu wollen. Die großen Spanier, vor allem Tirso da Molina, schufen die »drei Einheiten« des Barock, aber nicht als metaphysische Verneinungen, sondern lediglich als Ausdruck einer vornehmen höfischen Sitte, und Corneille, der gelehrige Zögling spanischer Grandezza, hat sie in dieser Bedeutung dorther entlehnt. Damit begann das Verhängnis. Die florentinische Nachahmung der maßlos bewunderten antiken Plastik, die niemand in ihren letzten Bedingungen begriff, konnte nichts verderben, denn es gab damals keine nordische Plastik mehr, die hätte verdorben werden können. Aber es gab die Möglichkeit einer mächtigen, rein faustischen Tragödie von ungeahnten Formen und Kühnheiten. Daß sie
nicht
erschien, daß das germanische Drama, so groß Shakespeare ist, niemals den Bann einer mißverstandenen Konvention ganz überwunden hat, das hat der blinde Glaube an die Autorität des Aristoteles verschuldet. Was hätte aus dem Drama des Barock unter den Eindrücken der ritterlichen Epik, der Osterspiele und Mysterien der Gotik, und in Nachbarschaft zu den Oratorien und Passionen der Kirche werden können, wenn man niemals etwas vom griechischen Theater gehört hätte! Eine Tragödie aus dem Geiste der kontrapunktischen Musik, ohne die Fesseln einer für sie sinnlosen plastischen Gebundenheit, eine Bühnendichtung, die sich von Orlando di Lasso und Palestrina an und neben Heinrich Schütz, Bach, Händel, Gluck, Beethoven vollkommen frei zu einer eignen und reinen Form entwickelt hätte – das wäre möglich gewesen und ist nun ausgeblieben. Nur dem glücklichen Umstande, daß die gesamte hellenische Freskomalerei verloren ging, verdanken wir die innere Freiheit unserer Ölmalerei.
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Mit den drei Einheiten war es nicht genug. Das attische Drama forderte statt des Mienenspiels die starre Maske – es verbot also die seelische Charakteristik, wie man die Aufstellung ikonischer Statuen verboten hatte. Es forderte den Kothurn und die überlebensgroße, rings bis zur Unbeweglichkeit gepolsterte Figur mit dem schleppenden Gewande – und beseitigte damit die Individualität der Erscheinung. Es forderte endlich den aus einem röhrenartigen Mundstück monoton erschallenden Sprechgesang.
Der bloße Text, wie wir ihn heute
lesen
– nicht ohne unvermerkt den Geist Goethes und Shakespeares und unsre ganze Kraft perspektivischen Sehens hineinzutragen – kann von dem tiefern Sinn dieses Dramas nur wenig geben. Antike Kunstwerke sind ganz für das antike Auge, und zwar das leibliche Auge geschaffen. Erst die sinnliche Form der Darstellung schließt die eigentlichen Geheimnisse auf. Und da bemerken wir einen Zug, der jeder wahren Tragik faustischen Stils gegenüber unerträglich wäre: die beständige Gegenwart des Chores. Der Chor ist die Urtragödie, denn ohne ihn wäre das ηθος, nicht möglich. Charakter hat jemand durch sich selbst; eine Haltung gibt es nur in bezug auf andere.
Dieser Chor als Menge, als der ideale Gegensatz zum einsamen, zum innerlichen Menschen, zum Monolog der abendländischen Szene, dieser Chor, der immer anwesend bleibt, vor dem sich alle »Selbstgespräche« abspielen, der die Angst vor dem Grenzenlosen, Leeren auch im Bühnenbilde vertreibt – das ist apollinisch. Die Selbstbetrachtung als
öffentliche
Tätigkeit, die prunkvolle öffentliche Klage statt des Schmerzes im einsamen Kämmerlein (»wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß«), das tränenreiche Jammergeschrei, das eine ganze Reihe von Dramen wie den Philoktet und die Trachinierinnen füllt, die Unmöglichkeit, allein zu bleiben, der Sinn der Polis, all das Weibliche dieser Kultur, wie es der Idealtypus des Apoll von Belvedere verrät, offenbart sich im Symbol des Chores. Dieser Art von Drama gegenüber ist dasjenige Shakespeares ein einziger Monolog. Selbst die Zwiegespräche, selbst die Gruppenszenen lassen die ungeheure
innere
Distanz dieser Menschen empfinden, von denen jeder im Grunde nur mit sich selbst spricht. Nichts vermag diese seelische Ferne zu durchbrechen. Man fühlt sie im Hamlet wie im Tasso, im Don Quijote wie im Werther, aber sie ist schon in Wolfram von Eschenbachs Parzival in ihrer ganzen Unendlichkeit Gestalt geworden; sie unterscheidet die gesamte abendländische Poesie von der gesamten antiken. Unsre ganze Lyrik, von Walther von der Vogelweide bis auf Goethe, bis auf die Lyrik der sterbenden Weltstädte herab ist monologisch, die antike Lyrik ist eine Lyrik im Chor, eine Lyrik vor Zeugen.
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