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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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dieser Bedeutung von Willensstärke und Richtungsenergie 1647 von Zesen durch »Leidenschaft« verdeutscht.] Die attische Tragödie enthält überhaupt keine »Handlung«. Die antiken Mysterien – und Aischylos, der aus Eleusis stammte, hat das höhere Drama durch Übertragung der Mysterienform mit ihrer Peripetie erst geschaffen – waren sämtlich δράματα oder δρώμενα, liturgische Begehungen. Aristoteles bezeichnet die Tragödie als Nachahmung eines Geschehens. Das, die Nachahmung, ist identisch mit der vielberufenen
Profanation der Mysterien,
und man weiß, daß Aischylos, der auch die sakrale Tracht der Eleusispriester für immer als Kostüm der attischen Bühne eingeführt hat, deshalb angeklagt wurde. [Die eleusinischen Mysterien enthielten durchaus keine Geheimnisse. Jeder wußte, was dort
vorging
. Aber sie wirkten mit einer geheimnisvollen Erschütterung auf die Gläubigen und man »verriet«, das heißt man entweihte sie, wenn man ihre heiligen Formen außerhalb der Tempelstätte nachahmte. Zum folg. A. Dieterich, Kl. Schr. (1911), S. 414ff.] Denn das eigentliche δρᾶμα mit seiner Peripetie von der Klage zum Jubel lag gar nicht in der Fabel, die dort erzählt wurde, sondern in der dahinter stehenden, symbolischen, vom Zuschauer im tiefsten Sinne aufgefaßten und nachgefühlten Kulthandlung. Mit diesem Element der nichthomerischen antiken Frühreligion [Vgl. Bd. II, S. 902f.] verband sich ein bäuerliches, die burlesken – phallischen, dithyrambischen – Szenen an den Frühlingsfesten für Demeter und Dionysos. Aus den Tiertänzen [Die Satyrn waren Böcke; Silen als Vortänzer trug einen Pferdeschwanz; aber die Vögel, Frösche und Wespen des Aristophanes deuten vielleicht auf noch andere Verkleidungen hin.] und dem begleitenden Gesang hat sich der tragische Chor entwickelt, welcher dem Darsteller, dem »Antworter« des Thespis (534) entgegentritt.
    Die eigentliche Tragödie wuchs aus der feierlichen Totenklage, dem Threnos
(naenia)
hervor. Irgendwann wurde aus dem heitren Spiel am Dionysosfeste – das auch ein Fest der Seelen war – ein Klagechor von Menschen, und das Satyrspiel an den Schluß verdrängt. 494 führte Phrynichos den »Fall von Milet« auf, kein historisches Schauspiel, sondern die Klage der Milesierinnen, wofür er streng bestraft wurde, weil er an das Leid der Stadt erinnert habe. Erst die Einführung des zweiten Darstellers durch Aischylos hat das Wesen der antiken Tragödie vollendet: der Klage als dem
gegebenen
Thema wird die sichtbare Gestaltung eines großen menschlichen Leidens als
gegenwärtiges
Motiv unterlegt. Die Vordergrundfabel (μῦϑος) ist nicht »Handlung«, sondern der Anlaß für die Gesänge des Chors, welche nach wie vor die eigentliche
tragoidia
bilden. Ob die Begebenheit erzählt oder vorgeführt wird, ist ganz unwesentlich. Der Zuschauer, der den Sinn des Tages kannte, fühlte in den pathetischen Worten sich und sein Schicksal gemeint.
In ihm
vollzieht sich die Peripetie, die der eigentliche Zweck der heiligen Szenen ist. Die liturgische Klage über den Jammer des Menschengeschlechts ist immer, von Berichten und Erzählungen umgeben, der Schwerpunkt des Ganzen geblieben. Man sieht es am deutlichsten im Prometheus, Agamemnon und König Ödipus. Aber hoch über die Klage hinaus erhebt sich nun [Das geschah in derselben Zeit, als mit Polyklet die Plastik über die Freskomalerei siegte, vgl. Bd. I, S. 363 f.] die Größe des Dulders, seine erhabene Attitüde, sein ἦϑος, das in mächtigen Szenen zwischen den Chorpartien vorgeführt wird. Nicht der heroische Täter, dessen Wille am Widerstand fremder Mächte oder an den Dämonen in der eignen Brust wächst und bricht, sondern der willenlos Leidende, dessen somatisches Dasein – ohne tiefern Grund, wie man hinzufügen muß – vernichtet wird, ist das Thema. Die Prometheustrilogie des Aischylos beginnt gerade dort, wo Goethe sie vermutlich hätte enden lassen. König Lears Wahnsinn ist das
Ergebnis
der tragischen Handlung. Der Aias des Sophokles dagegen wird von Athene wahnsinnig
gemacht, bevor
das Drama beginnt. Das ist der Unterschied zwischen einem Charakter und einer bewegten Gestalt. In der Tat, Furcht und Mitleid sind, wie es Aristoteles beschreibt, die notwendige Wirkung antiker Tragödien auf antike, und
nur
auf antike Zuschauer. Das wird sofort klar, wenn man sieht, welche Szenen von ihm als die wirksamsten bezeichnet werden, nämlich jähe Glückswechsel und Erkennungsszenen. Zu

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