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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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den ersten gehört vor allem der Eindruck des φόβος (Grauen), zu den zweiten der des ἐλεός (Rührung). Die erstrebte Katharsis ist nur aus dem Seinsideal der Ataraxia nachzuerleben. Die antike »Seele« ist reine Gegenwart, reines σῶμα, unbewegtes punktförmiges Sein. Dies in Frage gestellt zu sehen durch den Neid der Götter, das blinde Ungefähr, das wahllos blitzartig über jeden hereinbrechen kann, ist das Furchtbarste. Es greift an die Wurzeln der antiken Existenz, während es den faustischen, alles wagenden Menschen erst lebendig werden läßt. Und nun – das sich
lösen
zu sehen, wie wenn Gewitterwolken sich in dunklen Bänken am Horizont lagern und die Sonne wieder durchbricht, das tiefe Gefühl der Freude an der geliebten großen Geste, das Aufatmen der gequälten mythischen Seele, die Lust am wiedergewonnenen Gleichgewicht – das ist Katharsis. Das setzt aber auch ein Lebensgefühl voraus, das uns vollkommen fremd ist. Das Wort ist in unsre Sprachen und Empfindungen kaum zu übersetzen. Die ganze ästhetische Mühe und Willkür des Barock und des Klassizismus, mit der rückhaltlosen Ehrfurcht vor antiken Büchern im Hintergrunde, war notwendig, um uns dies seelische Fundament auch für unsre Tragödie aufzureden – angesichts der Tatsache, daß ihre Wirkung gerade die entgegengesetzte ist, daß sie nicht von passiven statischen Erlebnissen erlöst, sondern aktive, dynamische hervorruft, reizt und auf die Spitze treibt, daß sie die Urgefühle eines energischen Menschseins, die Grausamkeit, die Freude an Spannung, Gefahr, Gewalttat, Sieg, Verbrechen, das Glücksgefühl des Überwinders und Vernichters weckt, Gefühle, die seit der Wikingerzeit, den Hohenstaufentaten und Kreuzzügen in der Tiefe jeder nordischen Seele schlafen.
Das
ist die Wirkung Shakespeares. Ein Grieche hätte den Macbeth gar nicht ausgehalten; er hätte vor allem den Sinn dieser mächtigen biographischen Kunst mit ihrer Richtungstendenz nicht begriffen. Daß Gestalten wie Richard III., Don Juan, Faust, Michael Kohlhaas, Golo, unantik vom Scheitel bis zur Sohle, nicht Mitleid, sondern einen tiefen seltsamen Neid, nicht Furcht, sondern eine rätselhafte Lust an Qualen, einen verzehrenden Wunsch nach einem ganz andern Mit-Leiden wecken, verraten uns heute, wo die faustische Tragödie auch in ihrer spätesten, der deutschen Form endgültig abgestorben ist, die ständigen Motive der weltstädtischen Literatur Westeuropas, die man mit den entsprechenden alexandrinischen vergleiche; in den »nervenspannenden« Abenteuer- und Detektivgeschichten und ganz zuletzt im Kinodrama, das durchaus den spätantiken Mimus vertritt, ist ein Rest der unbändigen faustischen Überwinder- und Entdeckersehnsucht fühlbar.
    Dem entspricht genau das apollinische und das faustische Bühnenbild, das zur Vollständigkeit des Kunstwerkes gehört, wie es vom Dichter gedacht worden war. Das antike Drama ist ein Stück Plastik, eine Gruppe pathetischer Szenen von reliefmäßigem Charakter, eine Schau riesenhafter Marionetten vor der flach abschließenden Rückwand des Theaters. [Das innerlich geschaute Bühnenbild der drei großen Tragiker ist vielleicht mit der stilgeschichtlichen Folge der Ägina-, Olympia- und Parthenongiebel vergleichbar.] Es ist ausschließlich groß empfundene Geste, während die spärlichen Begebenheiten der Fabel eher feierlich vorgetragen als vorgeführt werden. Das Gegenteil will die Technik des abendländischen Dramas: ununterbrochene Bewegtheit und strenge Ausschaltung handlungsarmer, statischer Momente. Die berühmten drei Einheiten des Ortes, der Zeit und des Vorgangs, so wie sie in Athen nicht formuliert, aber unbewußt herausgebildet worden sind,
umschreiben den Typus der antiken Marmorstatue.
Und unvermerkt bezeichnen sie damit auch das Lebensideal des antiken, an die Polis, die reine Gegenwart, die Geste gebundenen Menschen. Die Einheiten haben sämtlich den Sinn von
Negationen:
man verleugnet den Raum, man verneint Gegenwart und Zukunft, man lehnt alle seelischen Beziehungen in die Ferne ab. Ataraxia – in dem Wort könnte man sie zusammenfassen. Man verwechsle diese Forderungen ja nicht mit oberflächlich ähnlichen im Drama der romanischen Völker. Das spanische Theater des 16. Jahrhunderts hat sich dem Zwang »antiker« Regeln unterworfen, aber man begreift, daß die kastilianische Würde der Zeit Philipps II. sich davon angesprochen fühlte, ohne den ursprünglichen Geist dieser Regeln zu kennen oder auch nur

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