Der Untergang des Abendlandes
gewiegten Musiker zugänglich bleibt. Aber eine Gruppe von Phidiaskennern? Oder gar Homerkennern? Hier wird eine Reihe von Erscheinungen als Symptome des abendländischen Lebensgefühls verständlich, die man bisher geneigt war als allgemein menschliche Beschränktheiten moralphilosophisch oder wohl richtiger melodramatisch aufzufassen. Der »unverstandene Künstler«, der »verhungernde Poet«, der »verhöhnte Erfinder«, der Denker, »der erst in Jahrhunderten begriffen wird« – das sind Typen einer esoterischen Kultur. Das Pathos der Distanz, in dem sich der Hang zum Unendlichen und also der Wille zur Macht verbirgt, liegt diesen Schicksalen zugrunde. Sie sind im Umkreise faustischen Menschentums, und zwar von der Gotik bis zur Gegenwart ebenso notwendig, als sie unter apollinischen Menschen undenkbar sind.
Alle hohen Schöpfer des Abendlandes waren von Anfang bis zu Ende in ihren eigentlichen Absichten nur einem kleinen Kreise verständlich. Michelangelo hat gesagt, daß sein Stil dazu berufen sei, Narren zu züchten. Gauß hat dreißig Jahre lang seine Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie verschwiegen, weil er das »Geschrei der Böoter« fürchtete. Die großen Meister der gotischen Kathedralplastik findet man heute erst aus dem Durchschnitt heraus. Aber das gilt von jedem Maler, jedem Staatsmann, jedem Philosophen. Man vergleiche doch Denker beider Kulturen, Anaximander, Heraklit, Protagoras mit Giordano Bruno, Leibniz oder Kant. Man denke daran, daß kein deutscher Dichter, der überhaupt Erwähnung verdient, von Durchschnittsmenschen verstanden werden kann und daß es in keiner abendländischen Sprache ein Werk von dem Range und zugleich der Simplizität Homers gibt. Das Nibelungenlied ist eine spröde und verschlossene Dichtung, und Dante zu verstehen, ist wenigstens in Deutschland selten mehr als eine literarische Pose. Was es in der Antike nie gab, hat es im Abendland immer gegeben: die exklusive Form. Ganze Zeitalter wie die der provenzalischen Kultur und des Rokoko sind im höchsten Grade gewählt und abweisend. Ihre Ideen, ihre Formensprache sind nur für eine wenig zahlreiche Klasse höherer Menschen da. Gerade daß die Renaissance, diese vermeintliche Wiedergeburt der – so gar nicht exklusiven, in ihrem Publikum so gar nicht wählerischen – Antike keine Ausnahme macht; daß sie durch und durch die Schöpfung eines
Kreises
und
einzelner
erlesener Geister war, ein Geschmack, der die Menge von vornherein abwies, daß im Gegenteil das Volk von Florenz gleichgültig, erstaunt oder unwillig zusah und gelegentlich, wie im Falle Savonarolas, mit Vergnügen die Meisterwerke zerschlug und verbrannte, beweist, wie tief diese Seelenferne geht. Denn die attische Kultur besaß
jeder
Bürger. Sie schloß keinen aus und sie kannte deshalb den
Unterschied von tief und flach
, der für uns von entscheidender Bedeutung ist, überhaupt nicht. Populär und flach sind für uns Wechselbegriffe, in der Kunst wie in der Wissenschaft; für antike Menschen sind sie es nicht. »Oberflächlich aus Tiefe« hat Nietzsche die Griechen einmal genannt.
Man betrachte daraufhin unsre Wissenschaften, die alle, ohne Ausnahme, neben elementaren Anfangsgründen »höhere«, dem Laien unverständliche Gebiete haben – auch dies ein Symbol des Unendlichen und der Richtungsenergie. Es gibt bestenfalls tausend Menschen auf der Welt, für welche heute die letzten Kapitel der theoretischen Physik geschrieben werden. Gewisse Probleme der modernen Mathematik sind nur einem noch viel engern Kreise zugänglich. Alle volkstümlichen Wissenschaften sind heute von vornherein wertlose, verfehlte, verfälschte Wissenschaften. Wir haben nicht nur eine Kunst für Künstler, sondern auch eine Mathematik für Mathematiker, eine Politik für Politiker – von der das
profanum vulgus
der Zeitungsleser keine Ahnung hat, [Die große Masse der Sozialisten würde sofort aufhören es zu sein, wenn sie den Sozialismus der neun oder zehn Menschen, die ihn heute in seinen äußersten historischen Konsequenzen begreifen, auch nur von fern verstehen könnte.] während die antike Politik niemals über den geistigen Horizont der Agora hinausging – eine Religion für das »religiöse Genie« und eine Poesie für Philosophen. Man kann den beginnenden Verfall der abendländischen Wissenschaft, der deutlich fühlbar ist, allein an dem Bedürfnis nach einer Wirkung ins Breite ermessen; daß die strenge Esoterik der Barockzeit als drückend empfunden wird,
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