Der Untergang des Abendlandes
das Ich in tiefster Einsamkeit im Raume verloren – das ist faustisches Lebensgefühl. Und das schlägt die Brücke hinüber zu den innerlich gesehenen, erfühlten Landschaften schon der venezianischen Musik um 1600, daß die Bühne der elisabethanischen Zeit das alles
nur bezeichnet
, während das geistige Auge sich aus spärlichen Andeutungen ein Bild der Welt entwirft, in welcher Szenen sich abspielen, die stets in ferne Begebenheiten hinübergreifen und die eine antike Bühne nie hätte darstellen können. Die griechische Szene ist niemals Landschaft; sie ist überhaupt nichts. Man darf sie höchstens als die Basis wandelnder Statuen bezeichnen. Die Figuren sind alles, auf dem Theater wie im Fresko. Wenn man dem antiken Menschen Naturgefühl abspricht, so ist es das faustische, das am Raume haftet und deshalb an der Landschaft, insofern sie Raum ist. Die antike Natur ist
der Körper
, und hat man sich einmal in diese Fühlweise versenkt, so begreift man plötzlich, mit welchen Augen ein Grieche das bewegte Muskelrelief eines nackten Leibes verfolgte.
Das
war seine lebendige Natur, nicht Wolken, Sterne und der Horizont.
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Alles Sinnlich-nahe aber ist gemeinverständlich. Damit wurde unter allen Kulturen, die es bisher gab, die antike in den Äußerungen ihres Lebensgefühls am meisten, die abendländische am wenigsten populär. Gemeinverständlichkeit ist das Merkmal einer Schöpfung, die sich jedem Betrachter auf den ersten Blick mit all ihren Geheimnissen preisgibt; einer Schöpfung, deren Sinn sich in der Außenseite und Oberfläche verkörpert. Gemeinverständlich ist in jeder Kultur das, was von urmenschlichen Zuständen und Bildungen her unverändert geblieben ist, was der Mann von den Tagen der Kindheit an fortschreitend begreift, ohne eine ganz neue Betrachtungsweise
erkämpfen
zu müssen, überhaupt das, was
nicht
erkämpft werden muß, was sich von selbst gibt, was im sinnlich Gegebenen unmittelbar zutage liegt, nicht durch dasselbe nur angedeutet ist und nur – von wenigen, unter Umständen von ganz vereinzelten – gefunden werden kann. Es gibt volkstümliche Ansichten, Werke, Menschen, Landschaften. Jede Kultur hat ihren ganz bestimmten Grad von Esoterik oder Popularität, der ihren gesamten Leistungen innewohnt, soweit sie symbolische Bedeutung haben. Das Gemeinverständliche hebt den Unterschied zwischen Menschen auf, hinsichtlich des Umfangs wie der Tiefe ihres Seelischen. Die Esoterik betont ihn, verstärkt ihn. Endlich, auf das ursprüngliche Tiefenerlebnis des zum Selbstbewußtsein erwachenden Menschen angewandt und damit auf das Ursymbol seines Daseins und den Stil seiner Umwelt bezogen: zum Ursymbol des Körperhaften gehört die rein populäre, »
naive
«, zum Symbol des unendlichen Raumes die ausgesprochen unpopuläre Beziehung zwischen Kultur
schöpfungen
und den zugehörigen Kultur
menschen
.
Die antike Geometrie ist die des Kindes, die eines jeden Laien. Euklids Elemente der Geometrie werden noch heute in England als Schulbuch gebraucht. Der Alltagsverstand wird sie stets für die einzig richtige und wahre halten. Alle andern Arten natürlicher Geometrie, die möglich sind und die – in angestrengter Überwindung des populären Augenscheins – von uns gefunden wurden, sind nur einem Kreis berufener Mathematiker verständlich. Die berühmten vier Elemente des Empedokles sind die jedes naiven Menschen und seiner »angebornen Physik«. Die von der radioaktiven Forschung entwickelte Vorstellung von isotopen Elementen ist schon den Gelehrten der Nachbarwissenschaften kaum verständlich.
Alles Antike ist mit
einem
Blick zu umfassen, sei es der dorische Tempel, die Statue, die Polis, der Götterkult; es gibt keine Hintergründe und Geheimnisse. Aber man vergleiche daraufhin eine gotische Domfassade mit den Propyläen, eine Radierung mit einem Vasengemälde, die Politik des athenischen Volkes mit der modernen Kabinettspolitik. Man bedenke, wie jedes unsrer epochemachenden Werke der Poesie, der Politik, der Wissenschaft eine ganze Literatur von Erklärungen hervorgerufen hat, mit sehr zweifelhaftem Erfolge dazu. Die Parthenonskulpturen waren für jeden Hellenen da, die Musik Bachs und seiner Zeitgenossen war eine Musik für Musiker. Wir haben den Typus des Rembrandtkenners, des Dantekenners, des Kenners der kontrapunktischen Musik, und es ist – mit Recht – ein Einwand gegen Wagner, daß der Kreis der Wagnerianer allzu weit werden konnte, daß allzu wenig von seiner Musik
nur
dem
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