Der Untergang des Abendlandes
Katastrophe wäre. Der Rassenhaß, das Alleinstehen des Emporkömmlings unter den Patriziern, der Mohr als Soldat, als Naturmensch, als der vereinsamte ältere Mann – nichts von diesen Momenten ist ohne Bedeutung. Man versuche doch, die Exposition des Hamlet oder Lear im Vergleich zu der sophokleischer Stücke zu entwickeln. Sie ist durchaus psychologisch, nicht eine Summe äußerer Daten. Von dem, was wir heute einen Psychologen nennen, nämlich einen gestaltenden Kenner innerer Epochen, was für uns beinahe mit dem Begriff eines Dichters identisch geworden ist, hatten die Griechen keine Ahnung. So wenig sie Analytiker in der Mathematik waren, so wenig waren sie es im Seelischen, und antiken Seelen gegenüber konnte es nicht wohl anders sein. »Psychologie« – das ist das eigentliche Wort für die
abendländische
Art von Menschengestaltung. Das paßt auf ein Porträt Rembrandts so gut wie auf die Musik des Tristan, auf Stendhals Julien Sorel wie auf Dantes Vita Nuova. Keine andre Kultur kennt Ähnliches. Gerade das ist es, was von der Gruppe antiker Künste mit Strenge ausgeschlossen blieb. »Psychologie« ist die Form, in welcher der
Wille
, der Mensch als verkörperter Wille, nicht der Mensch als σῶμα, kunstfähig wird. Wer hier Euripides nennt, der weiß gar nicht, was Psychologie ist. Welche Fülle des Charakteristischen liegt schon in der nordischen Mythologie mit ihren schlauen Zwergen, tölpischen Riesen, neckischen Elben, mit Loki, Baldr und den andern Gestalten, und wie typisch wirkt daneben der homerische Olymp! Zeus, Apollon, Poseidon, Ares sind einfach »Männer«, Hermes ist »der Jüngling«, Athene eine reifere Aphrodite, die kleineren Götter – wie auch die spätere Plastik beweist – nur dem Namen nach unterscheidbar. Das gilt im vollen Umfange auch von den Gestalten der attischen Szene. Bei Wolfram von Eschenbach, Cervantes, Shakespeare, Goethe entwickelt sich das Tragische des Einzellebens von innen heraus, dynamisch, funktional, und die Lebensläufe sind wieder nur aus dem geschichtlichen Hintergrund des Jahrhunderts ganz begreiflich; bei den drei großen Tragikern Athens kommt es von außen, statisch, euklidisch. Um eine früher auf die Weltgeschichte angewandte Bezeichnung zu wiederholen: das vernichtende Ereignis macht dort
Epoche
, hier bewirkt es eine
Episode
. Selbst der tödliche Ausgang ist nur die letzte Episode eines aus lauter Zufälligkeiten zusammengesetzten Daseins. Eine Barocktragödie ist nichts als der führende Charakter noch einmal, nur in der Lichtwelt des Auges zur Entfaltung gebracht, als Kurve statt als Gleichung, kinetische statt potentieller Energie. Die sichtbare Person ist der mögliche, die Handlung der sich verwirklichende Charakter. Dies ist der ganze Sinn unsrer noch heute unter antiken Reminiszenzen und Mißverständnissen verschütteten Lehre vom Tragischen. Der tragische Mensch der Antike ist ein euklidischer Körper, der in seiner Lage, die er nicht gewählt hat und nicht ändern kann, von der Heimarmene getroffen wird, der sich in der Belichtung seiner Flächen durch die äußeren Vorfälle unveränderlich zeigt. In diesem Sinne ist in den »Choephoren« von Agamemnon als dem »flottenführenden königlichen Leibe« die Rede und sagt Ödipus in Kolonos, daß das Orakel »seinem Leibe« gelte. Man wird bei allen bedeutenden Menschen der griechischen Geschichte bis auf Alexander hinab eine merkwürdige Unbildsamkeit finden. Ich wüßte keinen, der in den Kämpfen des Lebens eine innere Wandlung vollzogen hätte, wie wir sie von Luther und Loyola kennen. Was man allzu flüchtig bei den Griechen Charakterzeichnung nennt, ist nichts als der Reflex von Ereignissen auf das ἦϑος des Helden, niemals der Reflex einer Persönlichkeit auf die Ereignisse.
Und so verstehen wir faustischen Menschen das Drama mit innerster Notwendigkeit als ein Maximum an Aktivität, die Griechen mit derselben Notwendigkeit als ein Maximum an Passivität. [Das entspricht dem Bedeutungswandel der antiken Worte
pathos
und
passio.
Das letztere wurde erst in der Kaiserzeit dem ersten nachgebildet und hat sich im ursprünglichen Sinne in der Passion Christi erhalten. In frühgotischer Zeit erfolgt der Umschlag des Bedeutungsgefühls, und zwar im Sprachgebrauch der Spiritualen des Franziskanerordens und der Schüler des Joachim von Floris. Als Ausdruck tiefen Erregtseins, das nach Entladung strebt, wurde
passio
endlich zur Bezeichnung der seelischen Dynamik überhaupt, und in
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