Der Untergang des Abendlandes
Raumbehandlung in das Bild gezogen. Damit ist die Einheit des Weltraumes hergestellt. In dieser durch das Bild nach allen Seiten hin entwickelten Unendlichkeit herrscht nun die abendländische Perspektive, und von ihr aus führt ein Weg zum Verständnis unseres astronomischen Weltbildes mit seiner leidenschaftlichen Durchdringung unendlicher Raumfernen.
Der apollinische Mensch hatte den weiten Weltraum nie bemerken
wollen
; seine philosophischen Systeme schweigen sämtlich von ihm. Sie kennen nur Probleme der greifbar wirklichen Dinge, und dem »zwischen den Dingen« haftet nichts irgendwie Positives und Bedeutsames an. Sie nehmen die Erdkugel, auf der sie stehen und die selbst bei Hipparch von einer festen Himmelskugel umschichtet ist, als die schlechthin gegebene ganze Welt, und nichts wirkt für den, der hier noch die innersten und geheimsten Gründe zu sehen vermag, seltsamer als die immer wiederholten Versuche, dieses Himmelsgewölbe der Erde theoretisch so zuzuordnen, daß deren symbolischer Vorrang in keiner Weise angetastet wird. [Vgl. Bd. I, S. 92f.]
Damit vergleiche man die erschütternde Vehemenz, mit welcher die Entdeckung des Kopernikus, dieses »Zeitgenossen« des Pythagoras, die Seele des Abendlandes durchdrang, und die tiefe Ehrfurcht, mit welcher Kepler die Gesetze der Planetenbahnen entdeckte, die ihm als eine unmittelbare Offenbarung Gottes erschienen; er wagte bekanntlich nicht an ihrer kreisförmigen Gestalt zu zweifeln, weil jede andre ihm ein Symbol von zu geringer Würde darzustellen schien. Hier kam das altnordische Lebensgefühl, die Wikingersehnsucht nach dem Grenzenlosen zu ihrem Rechte. Dies gibt der echt faustischen Erfindung des Fernrohrs einen tiefen Sinn. Indem es in Räume eindringt, die dem bloßen Auge verschlossen bleiben, an denen der Wille zur Macht über den Weltraum eine Grenze findet, erweitert es das All, das wir »besitzen«. Das wahrhaft religiöse Gefühl, das den heutigen Menschen ergreift, der zum erstenmal diesen Blick in den Sternenraum tun darf, ein Machtgefühl, dasselbe, das Shakespeares größte Tragödien erwecken wollen, wäre Sophokles als der Frevel aller Frevel erschienen.
Eben deshalb muß man wissen, daß die Verneinung des »Himmelsgewölbes« ein Entschluß ist, keine sinnliche Erfahrung. Alle modernen Vorstellungen über das Wesen des sternerfüllten Raumes, oder vorsichtiger gesagt einer durch Lichtzeichen angedeuteten Ausgedehntheit beruhen durchaus nicht auf einem sicheren Wissen, das uns das Auge mittels des Fernrohrs liefert, denn im Fernrohr sehen wir nur kleine helle Scheiben verschiedener Größe. Die photographische Platte liefert ein sehr verschiedenes Bild, kein schärferes, sondern ein andres, und beide zusammen müssen erst durch viele und sehr gewagte Hypothesen, das heißt, selbstgeschaffene Bildelemente wie Abstand, Größe und Bewegung umgedeutet werden, um ein geschlossenes Weltbild zu liefern, wie es uns Bedürfnis ist. Der Stil dieses Bildes entspricht dem Stil unsrer Seele. In Wirklichkeit wissen wir nicht, wie verschieden die Leuchtkraft der Sterne ist und ob sie nach verschiedenen Richtungen variiert; wir wissen nicht, ob das Licht in den ungeheuren Räumen verändert, vermindert, ausgelöscht wird. Wir wissen nicht, ob unsre irdischen Vorstellungen vom Wesen des Lichts mit allen daraus abgeleiteten Theorien und Gesetzen außerhalb der Erdnähe noch Geltung haben. Was wir »sehen«, sind lediglich Lichtzeichen; was wir »verstehen«, sind Symbole unsrer selbst.
Das Pathos des kopernikanischen Weltbewußtseins, das ausschließlich unsrer Kultur angehört und – ich wage hier eine Behauptung, die heute noch paradox erscheinen wird – in ein gewaltsames Vergessen der Entdeckung umschlagen würde und wird, sobald sie der Seele einer künftigen Kultur bedrohlich erscheint, [Vgl. Bd. II, S. 921, Anm.] dies Pathos beruht auf der Gewißheit, daß nunmehr dem Kosmos das Körperlich-Statische, das sinnbildliche Übergewicht des plastischen
Erdkörpers
genommen ist. Bis dahin befand sich der Himmel, der ebenfalls als substanzielle Größe gedacht oder mindestens empfunden war, im polaren Gleichgewicht zur Erde. Jetzt ist es der
Raum
, der das All beherrscht; »Welt« bedeutet Raum, und die Gestirne sind kaum mehr als mathematische Punkte, winzige Kugeln im Unermeßlichen, deren Stoffliches das Weltgefühl nicht mehr berührt. Demokrit, der im Namen der apollinischen Kultur hier eine Körpergrenze schaffen wollte und mußte, hatte sich
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