Der Untergang des Abendlandes
verrät die sinkende Kraft, die Abnahme des Distanzgefühls, das diese Schranke ehrfürchtig
anerkennt
. Die wenigen Wissenschaften, die heute noch ihre ganze Feinheit, Tiefe und Energie des Schließens und Folgerns bewahrt haben und nicht vom Feuilletonismus angegriffen sind – es sind nicht mehr viele: die theoretische Physik, die Mathematik, die katholische Dogmatik, vielleicht noch die Jurisprudenz –, wenden sich an einen ganz engen, gewählten Kreis von Kennern.
Der Kenner aber ist es, der mit seinem Gegensatz, dem Laien, der Antike fehlt, wo jeder alles kennt
. Für uns hat diese
Polarität
von Kenner und Laie den Rang eines großen Symbols, und wo die Spannung dieser Distanz nachzulassen beginnt, da erlischt das faustische Lebensgefühl.
Dieser Zusammenhang gestattet für die letzten Fortschritte der abendländischen Forschung – also für die nächsten zwei, vielleicht nicht einmal zwei Jahrhunderte – den Schluß, daß, je höher die weltstädtische Leere und Trivialität der öffentlich und »praktisch« gewordenen Künste und Wissenschaften steigt, desto strenger sich der postume Geist der Kultur in sehr enge Kreise flüchten und dort ohne Zusammenhang mit der Öffentlichkeit an Gedanken und Formen wirken wird, die nur einer äußerst geringen Anzahl von bevorzugten Menschen etwas bedeuten können.
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Kein antikes Kunstwerk sucht eine Beziehung zum Betrachter. Das hieße den unendlichen Raum, in den das einzelne Werk sich verliert, durch dessen Formensprache bejahen, ihn in die Wirkung einbeziehen. Eine attische Statue ist vollkommen euklidischer Körper, zeitlos und beziehungslos, durchaus in sich abgeschlossen. Sie schweigt. Sie hat keinen Blick.
Sie weiß nichts vom Zuschauer
. Wie sie im Gegensatz zu den plastischen Gebilden aller andern Kulturen ganz für sich steht und sich in keine größere architektonische Ordnung einfügt, so steht sie unabhängig
neben
dem antiken Menschen, Körper neben Körper. Er empfindet ihre bloße
Nähe
, nicht ihre herandringende Macht, keine den Raum durchdringende Wirkung. So äußert sich das apollinische Lebensgefühl.
Die erwachende magische Kunst kehrte alsbald den Sinn dieser Formen um. Das Auge der Statuen und Porträts konstantinischen Stils richtet sich groß und starr auf den Betrachter. Es repräsentiert die höhere der beiden Seelensubstanzen, das Pneuma. Die Antike hatte das Auge blind gebildet; jetzt wird die Pupille gebohrt, das Auge wendet sich, unnatürlich vergrößert, in den Raum hinein, den es in der attischen Kunst nicht als seiend anerkannt hatte. Im antiken Freskogemälde waren die Köpfe einander zugewendet; jetzt, in den Mosaiken von Ravenna und schon in den Reliefs der altchristlichspätrömischen Sarkophage, wenden sie sich sämtlich dem Betrachter zu und heften den durchgeistigten Blick auf ihn. Eine geheimnisvoll eindringende Fernwirkung geht, ganz unantik, von der Welt im Kunstwerk in die Sphäre des Zuschauers hinüber. Noch in den frühflorentinischen und frührheinischen Bildern auf Goldgrund ist etwas von dieser Magie zu spüren.
Und nun betrachte man die abendländische Malerei, von Lionardo an, wo sie zum vollen Bewußtsein ihrer Bestimmung gelangt ist. Wie begreift sie den
einen
unendlichen Raum, dem das Werk
und
der Zuschauer, beide bloße Schwerpunkte räumlicher Dynamik, angehören? Das volle faustische Lebensgefühl, die Leidenschaft der dritten Dimension ergreift die Form des »Bildes«, einer farbig behandelten Fläche, und gestaltet sie in unerhörter Weise um. Das Gemälde bleibt nicht für sich, es richtet sich nicht auf den Zuschauer;
es nimmt ihn in seine Sphäre auf.
Der durch den Bildrahmen begrenzte Ausschnitt – das Guckkastenbild, ein getreues Seitenstück des Bühnenbildes – repräsentiert den Weltraum selbst. Vordergrund und Hintergrund verlieren ihre stofflich-nahe Tendenz und schließen auf, statt abzugrenzen. Ferne Horizonte vertiefen das Bild ins Unendliche; die farbige Behandlung der Nähe löst die ideale Scheidewand der Bildfläche auf und erweitert den Bildraum so, daß der Betrachter in ihm weilt. Nicht er wählt den Standort, von dem aus das Bild am günstigsten wirkt; das Bild weist ihm Ort und Entfernung an. Die Überschneidungen durch den Rahmen, die seit 1500 immer häufiger und kühner werden, entwerten auch die seitliche Grenze. Der hellenische Betrachter eines polygnotischen Fresko stand
vor
dem Bilde. Wir »versenken« uns in ein Bild, das heißt, wir werden durch die Gewalt der
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