Der Untergang des Abendlandes
Segelschiffahrt überwindet den
euklidischen
Begriff des Landes. Im Anfang des 14. Jahrhunderts erfolgt beinahe gleichzeitig – und gleichzeitig mit der Ausbildung der Ölmalerei und des Kontrapunkts – die Erfindung des
Schießpulvers und des Kompasses, der Fernwaffe
und des
Fernverkehrs
also, die beide mit tiefer Notwendigkeit auch innerhalb der chinesischen Kultur erfunden worden sind. Es war der Geist der Wikinger, der Hanse, der Geist jener Urvölker, welche die Hünengräber als Male einsamer Seelen auf weiter Ebene aufschütteten – statt der häuslichen Aschenurne der Hellenen –, die ihre toten Könige auf brennendem Schiff in die hohe See treiben ließen, ein erschütterndes Zeichen jener dunklen Sehnsucht nach dem Grenzenlosen, die sie trieb, auf ihren winzigen Kähnen um 900, als die Geburt der abendländischen Kultur sich ankündigte, die Küste Amerikas zu erreichen, während die von Ägyptern und Karthagern bereits ausgeführte Umschiffung Afrikas die antike Menschheit völlig gleichgültig ließ. Wie statuenhaft deren Dasein auch hinsichtlich des Verkehrs war, bezeugt die Tatsache, daß die Nachricht vom ersten Punischen Kriege, einem der gewaltigsten der antiken Geschichte, nur wie ein dunkles Gerücht von Sizilien nach Athen drang. Selbst die Seelen der Griechen waren im Hades versammelt, ohne sich zu regen, als Schattenbilder (ειδωλα), ohne Kraft, Wunsch und Empfindung. Die nordischen Seelen aber gesellten sich dem »wütenden Heere« zu, das rastlos durch die Lüfte schweift.
Auf der gleichen Kulturstufe wie die Entdeckungen der Spanier und Portugiesen des 14. erfolgte die große hellenische Kolonisation des 8. vorchristlichen Jahrhunderts. Aber während jene von der Abenteurersehnsucht nach ungemessenen Fernen und allem Unbekannten und Gefahrvollen besessen waren, ging der Grieche Punkt für Punkt vorsichtig hinter den bekannten Spuren der Phöniker, Karthager und Etrusker her, und seine Neugier erstreckte sich nicht im geringsten auf das, was jenseits der Säulen des Herkules oder der Landenge von Suez lag, so leicht erreichbar es ihm gewesen wäre. Man hörte in Athen ohne Zweifel von dem Weg in die Nordsee, nach dem Kongo, nach Sansibar, nach Indien; zur Zeit des Heron war die Lage der Südspitze Indiens und der Sundainseln bekannt; aber man verschloß sich dem so gut wie dem astronomischen Wissen des alten Ostens. Selbst als das heutige Marokko und Portugal römische Provinzen geworden waren, entstand kein neuer atlantischer Seeverkehr, und die Kanarischen Inseln blieben vergessen. Die Kolumbussehnsucht blieb der apollinischen Seele ebenso fremd wie die Sehnsucht des Kopernikus. Diese auf den Gewinn so versessenen hellenischen Kaufleute hatten eine tiefe metaphysische Scheu vor der Ausdehnung ihres geographischen Horizontes. Auch da hielt man sich an Nähe und Vordergrund. Das Dasein der Polis, jenes merkwürdige Ideal des Staates als Statue, war ja nichts als eine Zuflucht vor der »weiten Welt« jener Seevölker. Und dabei war die Antike unter allen bisher erschienenen Kulturen die einzige, deren Mutterland nicht auf der Fläche eines Kontinents, sondern um die Küsten eines Inselmeeres gelagert war und ein Meer als eigentlichen Schwerpunkt umschloß. Trotzdem hat nicht einmal der Hellenismus mit seinem Hang zu technischen Spielereien sich vom Gebrauch der Ruder befreit, welche die Schiffe an der Küste hielten. Die Schiffbaukunst konstruierte damals – in Alexandria – Riesenschiffe von 80 m Länge, und man hatte wieder einmal das Dampfschiff im Prinzip erfunden. Aber es gibt Entdeckungen von dem Pathos eines großen und
notwendigen
Symbols, die etwas sehr Innerliches offenbaren, und solche, die lediglich ein Spiel des Geistes sind. Das Dampfschiff ist für den apollinischen Menschen das letzte, für den faustischen das erste. Erst der Rang im Ganzen des Makrokosmos gibt einer Erfindung und ihrer Anwendung Tiefe oder Oberflächlichkeit.
Die Entdeckungen des Kolumbus und Vasco da Gama erweiterten den geographischen Horizont ins Ungemessene: das
Weltmeer
trat dem Festland gegenüber in das gleiche Verhältnis wie der Weltraum zur Erde. Jetzt erst entlud sich die politische Spannung des faustischen Weltbewußtseins. Für den Griechen war und blieb Hellas das wesentliche Stück der Erdfläche; mit der Entdeckung Amerikas wurde das Abendland zur Provinz in einem riesenhaften Ganzen. Von hier an trägt die Geschichte der abendländischen Kultur
planetarischen
Charakter.
Jede
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