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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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»die Natur«. Folglich kennt sie die Zeit nur als Strecke. Aber »der« Physiker
lebt
inmitten der
Geschichte
dieser Natur. Folglich ist er gezwungen, die Bewegung als eine mathematisch feststellbare Größe, als Benennung der im Experiment gewonnenen und in Formeln niedergelegten reinen Zahlen aufzufassen.
    »Die Physik ist die vollständige und einfache Beschreibung der Bewegungen« (Kirchhoff). Das ist immer ihre Absicht gewesen. Aber es handelt sich nicht um eine Bewegung im Bilde, sondern um eine Bewegung des Bildes. Bewegung innerhalb der physikalisch aufgefaßten Natur ist nichts anderes als jenes
metaphysische
Etwas, durch welches erst das Bewußtsein eines
Nach
einander entsteht. Das Erkannte ist zeitlos und bewegungsfremd. Das bedeutet »Gewordensein«. Aus der
organischen Folge
des Erkannten ergibt sich der Eindruck einer Bewegung. Der Gehalt dieses Wortes berührt den Physiker nicht als »Verstand«, sondern als
ganzen
Menschen, dessen ständige Funktion nicht die »Natur«, sondern die
ganze
Welt ist. Das aber ist die
Welt als Geschichte
. »Natur« ist ein Ausdruck der jeweiligen Kultur. [Vgl. Bd. I, S. 218.] Alle Physik ist Behandlung des Bewegungsproblems, in dem das Problem des Lebens selbst liegt, nicht als ob es eines Tages lösbar wäre, sondern
obwohl und weil
es unlösbar ist. Das Geheimnis der Bewegung weckt im Menschen die Angst vor dem Tode. [Vgl. Bd. I, S. 215, Bd. II, S. 573.]
    Gesetzt, daß Naturerkenntnis eine feine Art Selbsterkenntnis ist die Natur als Bild, als Spiegel des Menschen verstanden –, so ist der Versuch, das Bewegungsproblem zu lösen, ein Versuch der Erkenntnis, ihrem eigenen Geheimnis, ihrem Schicksal auf die Spur zu kommen.
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    Das kann allein dem physiognomischen Takt gelingen, wenn er schöpferisch wird, und das ist von jeher in der Kunst geschehen, vor allem in der tragischen Dichtung. Nur dem
denkenden
Menschen bereitet die Bewegung Verlegenheit; dem
schauenden
ist sie selbstverständlich. Das vollkommene System einer mechanischen Naturanschauung ist aber nicht Physiognomik, sondern eben
System
, das heißt reine Ausgedehntheit, logisch und zahlenmäßig geordnet, nichts Lebendiges, sondern etwas Gewordenes und Totes.
    Goethe, der ein Dichter war, kein Rechner, bemerkte deshalb: »Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze.« Für den, der Natur nicht erlebt, sondern erkennt,
hat
sie aber System; ist sie System und nichts weiter, und folglich Bewegung in ihr ein Widerspruch. Sie kann ihn durch eine künstliche Formulierung zudecken, aber
in den Grundbegriffen lebt er fort
. Der Stoß und Gegenstoß Demokrits, die Entelechie des Aristoteles, die Kraftbegriffe vom
impetus
der Occamisten um 1300 bis zum elementaren Wirkungsquantum der Strahlungstheorie seit 1900 enthalten sämtlich diesen Widerspruch. Man bezeichne die Bewegung
innerhalb
eines physikalischen Systems als dessen
Älterwerden
– es altert wirklich, als Erlebnis des Beobachters nämlich – und man wird das Verhängnisvolle des Wortes Bewegung und aller daraus abgeleiteten Vorstellungen mit ihrem unzerstörbaren organischen Gehalt deutlich fühlen. Die Mechanik sollte mit Altern
und folglich
mit Bewegung nichts zu tun haben. Also – denn ohne das Bewegungsproblem ist überhaupt keine Naturwissenschaft denkbar – kann es gar keine lückenlos geschlossene Mechanik geben; irgendwo befindet sich immer der organische Ausgangspunkt des Systems, dort wo das unvermittelte Leben hereinragt – die Nabelschnur, mit der das Geisteskind am mütterlichen Leben, das Gedachte am Denkenden haftet.
    Wir lernen hier die Grundlagen der faustischen und apollinischen Naturerkenntnis von einer ganz anderen Seite kennen. Es gibt keine
reine
Natur. Etwas vom Wesen der Geschichte liegt in jeder. Ist der Mensch ahistorisch wie der Grieche, dessen gesamte Welteindrücke in einer reinen, punktförmigen Gegenwart aufgesaugt werden, so wird das Naturbild
statisch
, in jedem einzelnen Augenblick in sich selbst abgeschlossen sein, nämlich gegen Zukunft und Vergangenheit. In der griechischen Physik kommt die Zeit als Größe ebensowenig vor wie im Entelechiebegriff des Aristoteles. Ist der Mensch historisch angelegt, so entsteht ein
dynamisches
Bild. Die Zahl, der Grenzwert des Gewordnen, wird im ahistorischen Falle
Maß und Größe
, im historischen
Funktion
. Man
mißt
nur Gegenwärtiges und man
verfolgt
nur etwas, das Vergangenheit und Zukunft hat, in

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