Der Untergang des Abendlandes
seinem Verlauf. Dieser Unterschied ist es, der den inneren Widerspruch im Bewegungsproblem in der antiken Theoriebildung verdeckt, in der abendländischen heraustreibt.
Die Geschichte ist ewiges Werden,
ewige Zukunft
also; die Natur ist geworden, also
ewige Vergangenheit.
[Vgl. Bd. I, S. 199.] Folglich hat hier eine seltsame Umkehrung stattgefunden; die Priorität des Werdens vor dem Gewordnen erscheint aufgehoben. Der aus
seiner
Sphäre, dem Gewordnen, rückschauende Geist kehrt den Aspekt des Lebens um; aus der
Idee des Schicksals
, die Ziel und Zukunft in sich hat, wird das mechanische
Prinzip von Ursache und Wirkung
, dessen Schwerpunkt im Vergangenen liegt. Der Geist vertauscht dem Range nach das zeithafte Leben und das raumhaft Erlebte, und versetzt die Zeit als Strecke in ein räumliches Weltsystem. Während aus der Richtung die Ausdehnung, aus dem Leben das Räumliche als weltbildendes Erlebnis folgt, setzt das menschliche Verstehen das Leben
als Prozeß in seinen starren, vorgestellten Raum hinein
. Dem Leben ist der Raum etwas, das als Funktion zum Leben gehört, dem Geist ist Leben etwas im Raume. Schicksal bedeutet ein Wohin, Kausalität bedeutet ein Woher. Wissenschaftlich begründen heißt vom Gewordnen und Verwirklichten aus nach »Gründen« suchen, indem man den mechanisch aufgefaßten Weg – das Werden als Strecke – rückwärts verfolgt. Aber es läßt sich nicht rückwärts leben, nur rückwärts denken. Nicht die Zeit, nicht das Schicksal ist umkehrbar, nur was der Physiker Zeit nennt, was er als teilbare, womöglich negative oder imaginäre »Größe« in seine Formeln eingehen läßt.
Die Verlegenheit ist immer wieder gefühlt, wenn auch ihrem Ursprung und ihrer Notwendigkeit nach selten begriffen worden. Innerhalb der antiken Naturforschung stellten die Eleaten der Notwendigkeit, die Natur in Bewegung zu denken, die logische Einsicht entgegen, daß Denken ein Sein, mithin Erkanntes und Ausgedehntes identisch und also Erkenntnis und Werden unvereinbar sind. Ihre Einwände sind nie widerlegt worden und unwiderlegbar, aber sie haben die Entwicklung der antiken Physik, die als Ausdruck der apollinischen Seele unentbehrlich und also über logische Widersprüche erhaben war, nicht gehindert. Innerhalb der von Galilei und Newton begründeten klassischen Mechanik des Barock ist eine einwandfreie Lösung im dynamischen Sinne immer wieder versucht worden. Die Geschichte des Kraftbegriffs, dessen endlos wiederholte Definition die Leidenschaft des Denkens kennzeichnet, das durch diese Schwierigkeit sich selbst in Frage gestellt sah, ist
nichts als die Geschichte der Versuche, die Bewegung mathematisch und begrifflich restlos zu fixieren. Der letzte bedeutende Versuch, der wie alle früheren mit Notwendigkeit mißlang, liegt in der Mechanik von Hertz vor.
Hertz hat, ohne die eigentliche Quelle aller Verlegenheit zu finden – das ist noch keinem Physiker gelungen –, versucht, den Begriff der Kraft ganz auszuschalten, mit dem richtigen Gefühl, daß der Fehler aller mechanischen Systeme in einem der Grundbegriffe zu suchen sei. Er wollte das Bild der Physik allein aus den Größen der Zeit, des Raumes und der Masse aufbauen, aber er bemerkte nicht, daß eben die Zeit selbst, die als Richtungsfaktor in den Begriff der Kraft eingegangen ist, das
organische
Element war, ohne das eine dynamische Theorie sich nicht aussprechen läßt und mit dem eine reine Lösung nicht gelingt. Und abgesehen davon bilden die Begriffe Kraft, Masse und Bewegung eine dogmatische Einheit. Sie bedingen einander so, daß die Anwendung des einen die unvermerkte der beiden andern schon einschließt. In dem antiken Urwort ἀρχή ist die ganze apollinische, im Kraftbegriff die ganze abendländische Fassung des Bewegungsproblems enthalten. Der Begriff der Masse ist nur das Komplement zum Kraftbegriff. Newton, eine tief religiöse Natur, brachte lediglich das faustische Weltgefühl zum Ausdruck, als er, um den Sinn der Worte Kraft und Bewegung verständlich zu machen, von Massen als Angriffspunkten der Kraft und Trägern der Bewegung sprach. So hatten die Mystiker des 13. Jahrhunderts Gott und sein Verhältnis zur Welt aufgefaßt. Newton hatte mit seinem berühmten »
hypotheses non fingo
« das metaphysische Element abgelehnt, aber seine Grundlegung einer Mechanik ist durch und durch metaphysisch.
Die Kraft ist im mechanischen Naturbilde des abendländischen Menschen, was der Wille in seinem Seelenbilde und die unendliche
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