Der Untergang des Abendlandes
und Germanen, völlig beherrschen und seinen mythischen Schöpfungen den eigentümlichen Charakter geben, lassen das des antiken Menschen unberührt. Nur Konkreta, Herd und Tür, der
einzelne
Wald und das
einzelne
Feld, dieser Fluß und jener Berg, verdichten sich ihm zu Wesen. Man bemerkt, daß alles, was Ferne hat, alles, was grenzenlos und unkörperlich wirkt und deshalb den Raum als seiend, als göttlich in die gefühlte Natur ziehen würde, vom Mythos ausgeschlossen bleibt, wie denn auch Wolken und Horizonte, die dem Landschaftsgemälde des Barock erst Sinn und Seele geben, im antiken hintergrundlosen Fresko völlig fehlen. Die unbegrenzte Menge antiker Götter – jeder Baum, jede Quelle, jedes Haus, jeder Teil des Hauses sogar ist Gott – bedeutet, daß jedes greifbare Ding ein
für sich
bestehendes Wesen, keines also dem andern funktional untergeordnet ist.
Dem apollinischen und dem faustischen Naturbilde liegen überall die entgegengesetzten Symbole des Einzeldinges und des
einen
Raumes zugrunde. Olymp und Unterwelt sind von scharfer sinnlicher Bestimmtheit; die Reiche der Zwerge, Elfen, Kobolde, Walhall und Niflheim – das alles ist irgendwo im Weltraum verloren. In der altrömischen Religion ist Tellus mater nicht die »Urmutter«, sondern der handgreifliche Acker selbst. Faunus ist
der
Wald, Volturnus
der
Fluß; die Saat
heißt
Ceres, die Ernte
heißt
Consus.
Sub Jove frigido
heißt bei Horaz echt römisch: unter kaltem Himmel. Hier wird nicht einmal der Versuch einer bildlichen Wiedergabe an der Stätte der Verehrung gemacht, denn das hieße den Gott verdoppeln. Noch sehr spät lehnt sich nicht nur der römische, sondern auch der griechische Instinkt gegen Götterbilder auf; das beweisen der immer profaner werdenden Plastik gegenüber der Volksglaube und die
fromme
Philosophie. [Vgl. Bd. I, S. 343 f.] Im Hause ist Janus die Tür als Gott, Vesta der Herd als Göttin; die beiden Funktionen des Hauses sind in ihrem Gegenstand Wesen, Gott geworden. Hellenische Flußgötter wie Acheloos, der als Stier erscheint, sind deutlich als der Fluß selbst, nicht etwa als im Flusse wohnend bezeichnet. Die Pane und Satyrn sind die als Wesen empfundenen, wohlbegrenzten Felder und Triften am Mittag. Dryaden und Hamadryaden
sind
Bäume. An vielen Stellen wurden einzelne, besonders wohlgewachsene Bäume an sich, ohne Namengebung verehrt, indem man sie mit Binden und Weihgeschenken schmückte. Dagegen besitzen die Mahre, Wichte, Zwerge, Hexen, Valkyren und die ihnen verwandten, schweifenden Heere der abgeschiedenen Seelen, die nachts umgehen, nichts von dieser ortsgebundenen Stofflichkeit. Najaden
sind
Quellen. Nixen und Alrunen aber, Holzgeister und Elben sind Seelen, die in Quellen, Bäume, Häuser nur
gebannt
sind und erlöst sein, wieder frei herumschweifen wollen. Das ist das vollkommene Gegenteil einer plastischen Naturempfindung. Die Dinge werden hier nur als Räume andrer Art erlebt. Eine Nymphe, eine Quelle also, nimmt wohl menschliche Gestalt an, wenn sie einen schönen Hirten besuchen will; eine Nixe aber ist eine verwunschene Prinzessin, mit Wasserrosen im Haar, die in Mitternächten aus dem See steigt, in dessen Tiefe sie wohnt. Kaiser Rotbart sitzt im Kyffhäuser und Frau Venus im Hörselberg. Es ist, als ob es nichts Stoffliches, Undurchdringliches im faustischen Weltall gäbe. In den Dingen ahnt man andre Welten; ihre Dichte, ihre Härte ist Schein, und – ein Zug, der im antiken Mythos gar nicht vorkommen könnte, der ihn aufheben würde – bevorzugten Sterblichen wird die Gabe verliehen, durch Felsen und Berge in die Tiefe zu schauen. Aber ist das nicht auch die geheime Meinung unserer physikalischen Theorie? Ist eine neue Hypothese nicht immer eine Art Springwurzel? Keine andre Kultur kennt so viele Sagen von Schätzen, die in Bergen und Seen ruhen, von geheimnisvollen unterirdischen Reichen, Palästen, Gärten, in denen andre Wesen wohnen. Die ganze Substanz der sichtbaren Welt wird vom faustischen Naturgefühl verleugnet. Es gibt nichts Erdhaftes mehr; nur der Raum ist wirklich. Das Märchen löst die Materie der Natur auf, wie der gotische Stil die steinerne Masse seiner Dome, die in einer Fülle von Formen und Linien geisterhaft verschwebt, denen keine Schwere mehr anhaftet, die keine Grenze mehr kennen.
Der mit steigendem Nachdruck auf somatische Vereinzelung gerichtete antike Polytheismus verdeutlicht sich am schärfsten vielleicht in der Haltung »fremden Göttern« gegenüber. Für den
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