Der Untergang des Abendlandes
Festbräuchen, und wer sie verhöhnte oder entweihte, lernte die Grenzen antiker Duldung kennen. Man denke an den Hermakopidenfrevel in Athen und an die Prozesse wegen Entweihung der eleusinischen Mysterien, das heißt der profanierenden Nachahmung des sinnlichen Elements. Der faustischen Seele aber war das
Dogma
wesentlich, nicht der sichtbare Kult. Es ist der Gegensatz von Raum und Körper, von Überwindung und Anerkennung des Augenscheins. Gottlos ist für uns die Auflehnung gegen eine Lehre. Hier beginnt der raumhaft-geistige Begriff der Ketzerei. Eine faustische Religion konnte ihrer Natur nach keine
Gewissensfreiheit
gestatten – das widerspricht ihrer den Raum durchdringenden Dynamik. Darin macht auch das Freidenkertum keine Ausnahme. Auf den Scheiterhaufen folgte die Guillotine, auf das Verbrennen der Bücher ihr Totschweigen, auf die Macht der Predigt die Macht der Presse. Es gibt unter uns keinen Glauben ohne Neigung zur Inquisition in irgendeiner Form. Mit einem zugehörigen Bilde der Elektrodynamik ausgedrückt: Das Kraftfeld einer Überzeugung ordnet alle darin befindlichen Geister seiner Spannung ein. Wer das nicht will, der besitzt keine starke Überzeugung mehr. Er ist, kirchlich gesprochen, gottlos. Gottlos aber war für die Antike eine Verachtung des Kultus – ασέβεια im wörtlichen Sinne – und hier duldete die apollinische Religion keine
Freiheit des Verhaltens
. Damit war in beiden Fällen eine Grenze derjenigen Toleranz gezogen, welche das Gottgefühl forderte und welche es verbot.
In diesem Punkte nun stand die spätantike Philosophie, die sophistisch-stoische Theorie (nicht die stoische Weltstimmung) dem religiösen Empfinden entgegen, und hier war das Volk von Athen – desselben Athens, das auch noch den »unbekannten Göttern« Altäre baute – von der Unerbittlichkeit der spanischen Inquisition. Man hat nur die Reihe antiker Denker und historischer Persönlichkeiten zu mustern, die der Heilighaltung des Kultus geopfert wurden. Sokrates und Diogoras wurden der Asebeia wegen hingerichtet; Anaxagoras, Protagoras, Aristoteles, Alkibiades konnten sich nur durch Flucht retten. Die Zahl der wegen Kultfrevels Hingerichteten zählt allein in Athen und nur während der Jahrzehnte des Peloponnesischen Krieges nach Hunderten. Nach der Verurteilung des Protagoras wurden seine Schriften von Haus zu Haus gesucht und verbrannt. In Rom beginnen die historisch noch erkennbaren Akte dieser Art mit der 181 vom Senat angeordneten öffentlichen Verbrennung der pythagoräischen »Bücher des Numa«, und von da an folgen ohne Unterbrechung Ausweisungen einzelner Philosophen und ganzer Schulen, späterhin Hinrichtungen und die feierliche Verbrennung von Schriften, die der Religion gefährlich werden konnten. Hierher gehört die Tatsache, daß allein zur Zeit Cäsars die Stätten des Isiskultes von den Konsuln fünfmal zerstört worden sind, und daß Tiberius das Bild der Göttin in den Tiber werfen ließ. Die Verweigerung des Opfers vor dem Bild des Kaisers war unter Strafe gestellt. In allen Fällen handelt es sich um »Atheismus«, wie er sich aus dem
antiken
Gottgefühl ergab und wie er sich als theoretische oder praktische Mißachtung des sichtbaren Kultes offenbarte. Wer in diesen Dingen nicht das eigne, abendländische Empfinden aus dem Spiele lassen kann, wird nie in das Wesen des hier zugrunde liegenden Weltbildes eindringen. Dichter und Philosophen durften Mythen erfinden und Göttergestalten umbilden, soviel sie wollten. Die dogmatische Deutung des sinnlich Gegebenen stand in jedermanns Belieben. Man konnte die Götter
geschichten
in Satyrspielen und Komödien verspotten – selbst das griff nicht an ihr euklidisches Dasein –, aber an das Götter
bild
, den Kultus, die plastische Gestaltung der Götterverehrung durfte nicht gerührt werden. Man mißversteht die feinen Geister der ersten Kaiserzeit, wenn man es als Heuchelei auffaßt, daß sie, ohne irgendeinen Mythos noch ernst zu nehmen, alle Verpflichtungen der Staatskulte, vor allem des allenthalben tief empfundenen Kaiserkultes auf sich nahmen. Umgekehrt stand es dem Dichter und Denker der gereiften faustischen Kultur frei, »nicht zur Kirche zu gehen«, die Beichte zu meiden, bei Prozessionen daheim zu bleiben, in protestantischer Umgebung ohne alle Verbindung mit kirchlichen Bräuchen zu leben, nicht aber, an dogmatische Einzelheiten zu rühren. Das war innerhalb aller Konfessionen und Sekten (das Freidenkertum nochmals ausdrücklich
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