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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Transzendenz, die vollkommene und restlose Überwindung des Augenscheins und dessen Ersatz durch eine dem Laien unverständliche und unvollziehbare Bildersprache, welcher das große faustische Symbol des unendlichen Raumes innere Notwendigkeit verleiht. Der Kreislauf der Naturerkenntnis des Abendlandes vollendet sich. Mit dem tiefen Skeptizismus dieser letzten Einsichten knüpft der Geist wieder an die Formen frühgotischer Religiosität an. Die anorganische, erkannte, zergliederte Umwelt, die Welt als Natur, als System ist zu einer reinen Sphäre funktionaler Zahlen vertieft worden. Wir hatten die Zahl als eines der ursprünglichsten Symbole jeder Kultur erkannt, und so folgt, daß der Weg zur reinen Zahl die Rückkehr des Wachseins zu seinem eignen Geheimnis, die Offenbarung seiner eignen formalen Notwendigkeit ist. Am Ziele angelangt, enthüllt sich endlich das ungeheure, immer unsinnlicher, immer durchscheinender gewordene Gewebe, das die gesamte Naturwissenschaft umspinnt: es ist nichts andres als die innere Struktur des wortgebundenen Verstehens, das den Augenschein zu überwinden, von ihm »die Wahrheit« abzulösen glaubte. Darunter aber erscheint wieder das Früheste und Tiefste, der Mythos, das unmittelbare Werden, das Leben selbst. Je weniger anthropomorph die Naturforschung zu sein glaubt, desto mehr ist sie es. Sie beseitigt nach und nach die einzelnen menschlichen Züge des Naturbildes, um endlich als die vermeintlich reine Natur die Menschlichkeit selbst, rein und ganz, in Händen zu halten. Aus der gotischen Seele ging, das religiöse Weltbild überschattend, der städtische Geist hervor, das alter ego der irreligiösen Naturerkenntnis. Heute, in der Abendröte der wissenschaftlichen Epoche, im Stadium des siegenden Skeptizismus, lösen sich die Wolken, und die Landschaft des Morgens ruht wieder in vollkommener Deutlichkeit.
    Der letzte Schluß faustischer Weisheit ist, wenn auch nur in ihren höchsten Momenten, die Auflösung des gesamten Wissens in ein ungeheures System morphologischer Verwandtschaften. Dynamik und Analysis sind dem Sinne, der Formensprache, der Substanz nach identisch mit der romanischen Ornamentik, den gotischen Domen, dem christlich-germanischen Dogma und dem dynastischen Staat. Ein und dasselbe Weltgefühl redet aus allen. Sie sind mit der faustischen Seele geboren und alt geworden. Sie stellen ihre Kultur als geschichtliches Schauspiel in der Welt des Tages und des Raumes dar. Die Vereinigung der einzelnen wissenschaftlichen Aspekte zum Ganzen wird alle Züge der großen Kunst des Kontrapunkts tragen. Eine infinitesimale Musik des grenzenlosen Weltraums – das ist immer die tiefe Sehnsucht dieser Seele im Gegensatz zur antiken mit ihrem plastisch-euklidischen Kosmos gewesen. Das ist, als Denknotwendigkeit des faustischen Weltverstandes auf die Formel einer dynamisch-imperativischen Kausalität gebracht, zu einer diktatorischen, arbeitenden, die Erde umgestaltenden Naturwissenschaft entwickelt, ihr großes Testament für den Geist kommender Kulturen – ein Vermächtnis von Formen gewaltigster Transzendenz, das vielleicht niemals eröffnet werden wird. Damit kehrt eines Tages die abendländische Wissenschaft, ihres Strebens müde, in ihre seelische Heimat zurück.

Zweiter Band - Welthistorische Perspektiven
    (1922)
Erstes Kapitel: Ursprung und Landschaft
I. Das Kosmische und der Mikrokosmos
1
    Betrachte die Blumen am Abend,
[Was im Folgenden angedeutet ist, habe ich einem metaphysischen Buch entnommen, das ich in kurzem vorzulegen hoffe. Gemeint ist das unvollendet hinterlassene Werk »Urfragen«. H.K.]
wenn in der sinkenden Sonne eine nach der andern sich schließt: etwas Unheimliches dringt dann auf dich ein, ein Gefühl von rätselhafter Angst vor diesem blinden, traumhaften, der Erde verbundenen Dasein. Der stumme Wald, die schweigenden Wiesen, jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Der Wind ist es, der mit ihnen spielt. Nur die kleine Mücke ist frei; sie tanzt noch im Abendlichte; sie bewegt sich, wohin sie will.
    Eine Pflanze ist nichts für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall sie Wurzel zu fassen zwang. Die Dämmerung, die Kühle und das Schließen aller Blüten – das ist nicht Ursache und Wirkung, nicht Gefahr und Entschluß, sondern ein einheitlicher Naturvorgang, der sich neben, mit und in der Pflanze vollzieht. Es steht der einzelnen nicht frei, für sich zu warten, zu wollen oder zu wählen.
    Ein Tier aber kann wählen. Es ist

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