Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
allmählich setzt sich das Verstehen immer deutlicher gegen das bloße Empfinden ab. Im äußeren Keimblatt trennt sich das
kritische
Organ vom Sinnesorgan – und dieses sehr bald wieder in scharf abgesonderte Einzelsinne – wie das Geschlechtsorgan vom Blutkreislauf; wie bestimmt wir alles Verstehen als abgeleitet aus dem Empfinden auffassen und wie gleichartig beide noch beim Menschen in ihrer unterscheidenden Tätigkeit wirken, bezeugen Worte wie scharfsinnig, feinfühlig, Einsicht, gelehrte Schnüffelei, Tatsachenblick, ganz zu schweigen von den Ausdrücken der Logik wie Begriff und Schluß, die sämtlich aus der Welt des Sehens stammen.
    Wir sehen den Hund unaufmerksam, dann aber plötzlich gespannt aufhorchend und witternd: das Verstehen wird zum bloßen Empfinden hinzugesucht. Aber auch ein Hund kann nachdenklich sein – da ist das Verstehen fast allein tätig und spielt mit matten Empfindungen. Die älteren Sprachen haben diese Steigerung sehr klar ausgedrückt, indem sie jeden neuen Grad als Tätigkeit von besondrer Art scharf unterschieden und mit einem eignen Namen belegten: hören, horchen, lauschen; riechen, wittern, schnüffeln; sehen, spähen, beobachten: in solchen Reihen wird der Gehalt an Verstehen immer stärker im Verhältnis zu dem an Empfinden.
    Endlich aber entfaltet sich ein höchster Sinn unter den anderen. Ein Etwas im All, das unserm Verstehenwollen für immer unzugänglich bleiben wird, weckt sich ein leibliches Organ: das Auge entsteht und im Auge, mit dem Auge entsteht als Gegenpol das Licht. Mag abstraktes Denken vom Licht das Licht fortdenken wollen und ein Gedankenbild von Wellen und Strahlen zeichnen, als Wirklichkeit ist von nun an das Leben
durch die Lichtwelt des Auges
umfaßt und einbezogen. Dies ist das Wunder, dem alles Menschliche untersteht. Erst in der Augenwelt des Lichtes gibt es Fernen als Farben und Helligkeit, erst in dieser Welt gibt es Tag und Nacht, sichtbare Dinge und sichtbare Bewegungen in einem weitgedehnten Lichtraum, eine Welt unendlich ferner Gestirne, die über der Erde kreisen, einen Lichthorizont des einzelnen Lebens, der weit über die Nachbarschaft des Leibes hinausreicht. In dieser Lichtwelt, welche alle Wissenschaft nur durch mittelbare, innerliche Augenvorstellungen – »theoretisch« – umdeutet, geschieht es, daß auf dem kleinen Erdenstern menschliche sehende Scharen wandern, daß das ganze Leben mitbestimmt ist davon, ob die Lichtflut des Südens über der ägyptischen und mexikanischen Kultur oder Lichtarmut über dem Norden liegt. Für sein
Auge
zaubert der Mensch seine Bauten und setzt damit das leibliche Tastempfinden der Tektonik in lichtgeborene Beziehungen um. Religion, Kunst, Denken sind für das Licht entstanden und alle Unterschiede beschränken sich darauf, ob sie sich an das leibliche Auge oder an das »Auge des Geistes« wenden.
    Damit hat sich in voller Deutlichkeit ein Unterschied offenbart, den wieder ein unklares Wort, Bewußtsein, zu trüben pflegt. Ich unterscheide
Dasein und Wachsein
. Das Dasein hat Takt und Richtung, das Wachsein ist Spannung und Ausdehnung. Im Dasein waltet ein Schicksal, das Wachsein unterscheidet Ursachen und Wirkungen. Dem einen gilt die Urfrage nach dem Wann und Warum, dem andern die nach dem Wo und Wie.
    Eine Pflanze führt ein Dasein ohne Wachsein. Im Schlaf werden alle Wesen zu Pflanzen: die Spannung zur Umwelt ist erloschen, der Takt des Lebens geht weiter. Eine Pflanze kennt nur die Beziehung zum Wann und Warum. Das Drängen der ersten grünen Spitzen aus der Wintererde, das Schwellen der Knospen, die ganze Gewalt des Blühens, Duftens, Leuchtens, Reifens: das alles ist Wunsch nach der Erfüllung eines Schicksals und eine beständige sehnsüchtige Frage nach dem Wann.
    Das Wo kann für ein pflanzenhaftes Dasein keinen Sinn haben. Es ist die Frage, mit welcher der erwachende Mensch sich täglich wieder auf seine Welt besinnt. Denn nur der Pulsschlag des Daseins dauert durch alle Geschlechter an. Das Wachsein beginnt für jeden Mikrokosmos von neuem: das ist der Unterschied von Zeugung und Geburt. Die eine ist Bürgschaft der Dauer, die andere ist ein Anfang. Und deshalb wird eine Pflanze erzeugt, aber nicht geboren. Sie ist da, aber kein Erwachen, kein erster Tag spannt eine Sinnenwelt um sie aus.
2
    So tritt uns nun der Mensch entgegen. Nichts in seinem sinnlichen Wachsein stört mehr die reine Herrschaft des Auges. All die Klänge der Nacht, der Wind, das Atmen der Tiere, der Duft der Blumen

Weitere Kostenlose Bücher