Der Untergang des Abendlandes
aus der Verbundenheit der ganzen übrigen Welt gelöst. Jener Mückenschwarm, der noch am Wege tanzt, ein einsamer Vogel, der durch den Abend fliegt, ein Fuchs, der ein Nest beschleicht – sie sind
kleine Welten für sich in einer andern großen
. Ein Infusor, welches dem menschlichen Auge nicht mehr sichtbar im Wassertropfen ein Dasein führt, das eine Sekunde dauert und dessen Schauplatz ein winziger Winkel dieses kleinen Tropfens ist –
es ist frei und unabhängig dem gesamten All gegenüber
. Die Rieseneiche, an deren einem Blatt dieser Tropfen hängt, ist es nicht.
Verbundenheit und Freiheit
: das ist der tiefste und letzte Grundzug in allem, was wir als pflanzenhaftes und tierhaftes Dasein unterscheiden. Doch nur die Pflanze ist
ganz
, was sie ist. Im Wesen eines Tieres liegt etwas Zwiespältiges. Eine Pflanze ist nur Pflanze, ein Tier ist Pflanze und noch etwas außerdem. Eine Herde, die sich zitternd vor einer Gefahr zusammendrängt, ein Kind, das weinend seine Mutter umklammert, ein verzweifelter Mensch, der sich in seinen Gott hineindrängen möchte, sie wollen alle aus dem Dasein in Freiheit zurück in jenes verbundene, pflanzenhafte, aus dem sie zur Einsamkeit entlassen sind.
Der Samen einer Blütenpflanze zeigt unter dem Mikroskop zwei Keimblätter, welche den später dem Licht zugewandten Sproß mit seinen Organen des Kreislaufs und der Fortpflanzung bilden und schützen, und gleichsam ein drittes, den Wurzelschoß, welcher das unwiderrufliche Schicksal der Pflanze andeutet, wieder den Teil einer Landschaft zu bilden. Bei höheren Tieren sehen wir, wie das befruchtete Ei in den ersten Stunden des sich ablösenden Daseins ein äußeres Keimblatt bildet, welches das mittlere und innere, die Grundlage künftiger Kreislauf- und Fortpflanzungsorgane, also des pflanzenhaften Elements im Tierleib, umschließt und gegen den mütterlichen Leib und damit
die ganze übrige
Welt abhebt. Das äußere Keimblatt ist das Sinnbild des eigentlich tierhaften Daseins. Es unterscheidet die beiden Arten von Lebendigem, welche in der Erdgeschichte hervorgetreten sind.
Es gibt alte schöne Namen dafür: die Pflanze ist
etwas Kosmisches
, das Tier ist
außerdem ein Mikrokosmos in bezug auf einen Makrokosmos
. Erst damit, daß ein Lebewesen sich derart aus dem All absondert, daß es seine Lage zu ihm bestimmen kann, ist es ein Mikrokosmos geworden. Selbst die Planeten sind in ihrer Bahn an die großen Kreisläufe gebunden; nur diese kleinen Welten bewegen sich frei im Verhältnis zu einer großen, deren sie sich als ihrer Umwelt bewußt sind. Erst damit hat für unser Auge das, was das Licht im Räume darbietet, den Sinn eines
Leibes
bekommen. Etwas in uns widerstrebt, wenn wir auch der Pflanze einen eigentlichen Leib zuschreiben möchten.
Alles Kosmische trägt das Zeichen der Periodizität. Es besitzt
Takt
. Alles Mikrokosmische hat Polarität. Das Wort »gegen« drückt sein ganzes Wesen aus. Es besitzt
Spannung
. Wir sprechen von gespannter Aufmerksamkeit, von gespanntem Denken, aber alle wachen Zustände überhaupt sind ihrem Wesen nach Spannungen; Sinne und Gegenstände, Ich und Du, Ursache und Wirkung, Ding und Eigenschaft, alles das ist zerdehnt und gespannt, und wo die mit tiefer Bedeutung sogenannte Abspannung sich meldet, tritt alsbald Müdigkeit der mikrokosmischen Seite des Lebens, zuletzt der Schlaf ein. Ein schlafender, aller Spannungen entledigter Mensch führt nur noch ein Pflanzendasein.
Kosmischer Takt aber ist alles, was sich auch mit Richtung, Zeit, Rhythmus, Schicksal, Sehnsucht umschreiben läßt, vom Hufschlag eines Gespanns von Rassepferden und dem dröhnenden Schritt begeisterter Heere an bis zum schweigenden Sichverstehen zweier Liebender, zum gefühlten Takt einer vornehmen Gesellschaft und zum Blick des Menschenkenners, den ich früher schon als physiognomischen Takt bezeichnet habe.
Dieser Takt kosmischer Kreisläufe lebt und webt noch unter jeder Freiheit mikrokosmischer Bewegungen im Raume und löst zuweilen die Spannung aller wachen Einzelwesen in
einen
großen gefühlten Einklang auf. Wer je einen Vogelzug im Äther verfolgt hat, wie er in immer gleicher Gestalt aufsteigt, wendet, wieder abbiegt und sich in der Ferne verliert, fühlt das pflanzenhaft Sichere, das »es«, das »wir« in dieser Gesamtbewegung, das keiner Brücke der Verständigung zwischen dem Ich und Du bedarf. Das ist der Sinn der Kriegs- und Liebestänze unter Tieren und Menschen; so wird ein stürmendes Regiment im
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