Der Untergang des Abendlandes
feindlichen Feuer zur Einheit geschmiedet, so ballt sich die Menge bei einem aufregenden Vorfall plötzlich zu einem Körper zusammen, der jäh, blind und rätselhaft denkt und handelt und nach wenig Augenblicken wieder zerfallen sein kann. Hier sind die mikrokosmischen Grenzen aufgehoben.
Es
tobt und droht,
es
drängt und zieht,
es
fliegt, biegt und wiegt. Die Glieder verschlingen sich, der Fuß stürmt,
ein
Schrei erklingt aus aller Munde,
ein
Schicksal liegt über allen. Aus einer Summe kleiner einzelner Welten ist plötzlich eine Ganzheit entstanden.
Das Gewahrwerden kosmischen Taktes nennen wir
Fühlen
, das mikroskosmischer Spannungen nennen wir
Empfinden
. Das doppeldeutige Wort Sinnlichkeit hat diesen klaren Unterschied der allgemein pflanzlichen und der nur tierhaften Seite des Lebens verdunkelt. Sagen wir für die eine Geschlechtsleben, für die andere Sinnenleben, so erschließt sich ein tiefer Zusammenhang. Jenes trägt immer das Merkmal der Periodizität, des Taktes, noch in seinem Einklang mit den großen Kreisläufen der Gestirne, in der Beziehung der weiblichen Natur zum Monde, des Lebens überhaupt zur Nacht, zum Frühling, zur Wärme; dieses besteht aus Spannungen: des Lichtes zum Belichteten, des Erkennens zum Erkannten, des Schmerzes zur Waffe, die ihn verursacht hat. Beides hat sich in den höher entwickelten Gattungen zu besonderen Organen ausgeprägt. Je vollkommener sie sich gestalten, desto offener reden sie von der Bedeutung der beiden Lebensseiten. Wir besitzen zwei
Kreislauforgane des kosmischen Daseins
: den Blutkreislauf und das Geschlechtsorgan, und zwei
Unterscheidungsorgane der mikrokosmischen Beweglichkeit
: Sinne und Nerven. Wir müssen annehmen, daß ursprünglich der ganze Leib Organ des Kreislaufs und zugleich Tastorgan gewesen ist.
Das Blut ist für uns das Sinnbild des Lebendigen. Es kreist ohne Pause durch den Leib von seiner Zeugung bis zum Tode, aus dem mütterlichen Leibe in den des Kindes hinüber, im Wachen und Schlafen, niemals endend. Das Blut der Ahnen fließt durch die Kette der Geschlechter und verbindet sie zu einem großen Zusammenhange des Schicksals, des Taktes und der Zeit. Ursprünglich geschah das nur durch Teilung und immer neue Teilung der Kreisläufe, bis zuletzt ein eigenes Organ der geschlechtlichen Zeugung erschien, das
einen
Augenblick zum Sinnbild der Dauer machte. Wie nun diese Wesen zeugen und empfangen, wie das Pflanzenhafte in ihnen danach drängt, sich fortzupflanzen, den ewigen Kreislauf über sich selbst hinaus dauern zu lassen, wie der
eine
große Pulsschlag durch entfernte Seelen hindurch anziehend, treibend, hemmend und auch vernichtend wirkt, das ist jenes tiefste aller Lebensgeheimnisse, das alle religiösen Mysterien und alle großen Dichtungen zu durchdringen versuchen und dessen Tragik Goethe in dem Gedicht »Selige Sehnsucht« und in den »Wahlverwandtschaften« angerührt hat, wo das Kind sterben mußte, weil es aus entfremdeten Kreisen des Blutes und also gleichsam durch eine kosmische Schuld ins Dasein gezogen worden war.
Für den Mikrokosmos, insofern er sich im Verhältnis zum Makrokosmos frei bewegt, tritt das Unterscheidungsorgan hinzu, »der Sinn«, der ursprünglich Tastsinn ist und nichts anderes. Was wir heute noch, auf so hoher Stufe der Entwicklung, ganz allgemein Tasten nennen, mit dem Auge, dem Gehör, dem Verstande tasten, ist die einfachste Bezeichnung für die Bewegtheit eines Wesens und damit die Notwendigkeit, sein Verhältnis zur Umgebung unaufhörlich festzustellen. Fest-stellen aber bedeutet ein Bestimmen des
Ortes
. Deshalb sind alle Sinne, sie mögen noch so ausgebildet und ihrem Ursprung noch so entfremdet sein, ganz eigentlich
Ortssinne
; es gibt keine andern. Das Empfinden jeder Art unterscheidet Eignes und Fremdes, und um die Lage des Fremden in bezug auf das Eigne festzustellen, dient die Witterung des Hundes so gut wie das Gehör der Rehe und das Auge des Adlers. Farbe, Helligkeit, Töne, Gerüche, alle überhaupt möglichen Empfindungsweisen bedeuten Abstand, Entfernung, Ausdehnung.
Ursprünglich ist, wie der kosmische Kreislauf des Blutes, so auch die unterscheidende Tätigkeit des Sinnes eine Einheit; ein tätiger Sinn ist immer auch ein verstehender Sinn; Suchen und Finden sind in diesen einfachen Verhältnissen eins, eben das, was wir sehr verständlich mit Tasten bezeichnen. Erst später und bei hohen Forderungen an ausgebildete Sinne ist Empfinden nicht zugleich auch Verstehen des Empfindens und
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