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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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auf, ein geistiges Ideal zu sein.

    Der Einzelne leistet Verzicht, indem er die Bücher weglegt. Eine
Kultur
verzichtet, indem sie aufhört, sich in hohen wissenschaftlichen Intelligenzen zu offenbaren; aber Wissenschaft existiert nur im lebendigen Denken großer Gelehrtengenerationen, und Bücher sind nichts, wenn sie nicht in Menschen, die ihnen gewachsen sind, lebendig und wirksam werden. Wissenschaftliche Resultate sind lediglich Elemente einer geistigen Tradition. Der Tod einer Wissenschaft besteht darin, daß sie niemandem mehr Ereignis wird. Aber zweihundert Jahre Orgien der Wissenschaftlichkeit – dann hat man es satt. Nicht der Einzelne, die Seele der Kultur hat es satt. Sie drückt das aus, indem sie ihre Forscher, die sie in die geschichtliche Welt des Tages hinaufsendet, immer kleiner, enger, unfruchtbarer wählt. Das große Jahrhundert der antiken Wissenschaft war das dritte, nach dem Tode des Aristoteles. Als die Römer kamen, als Archimedes starb, war es fast schon zu Ende. Unser großes Jahrhundert ist das neunzehnte gewesen. Gelehrte im Stile von Gauß, Humboldt, Helmholtz waren schon um 1900 nicht mehr da; in der Physik wie in der Chemie, der Biologie wie der Mathematik sind die großen Meister tot, und wir erleben heute das Decrescendo der glänzenden Nachzügler, die ordnen, sammeln und abschließen wie die Alexandriner der Römerzeit. Es ist das
allgemeine
Symptom für alles, was nicht zur Tatsachenseite des Lebens, zu Politik, Technik und Wirtschaft gehört. Nach Lysipp ist kein großer Plastiker mehr gekommen, dessen Erscheinung ein Schicksal gewesen wäre, nach den Impressionisten kein Maler, nach Wagner kein Musiker mehr. Das Zeitalter des Cäsarismus bedarf keiner Kunst und Philosophie. Auf Eratosthenes und Archimedes, die eigentlichen Schöpfer, folgen Poseidonios und Plinius, die mit Geschmack sammeln, und endlich Ptolemäus und Galen, die nur noch abschreiben. Wie die Ölmalerei und die kontrapunktische Musik ihre Möglichkeiten in einer kleinen Zahl von Jahrhunderten einer organischen Entwicklung erschöpft haben, so ist die Dynamik, deren Formenwelt um 1600 aufblüht, ein Gebilde, das heute im Zerfall begriffen ist.
    Zuvor aber erwächst dem faustischen, eminent historischen Geist eine noch nie gestellte, noch nie als möglich geahnte Aufgabe. Es wird noch eine
Morphologie der exakten Wissenschaften
geschrieben werden, die untersucht, wie alle Gesetze, Begriffe und Theorien als Formen innerlich zusammenhängen und was sie als solche im Lebenslauf der faustischen Kultur bedeuten. Die theoretische Physik, die Chemie, die Mathematik als Inbegriff von Symbolen betrachtet – das ist die endgültige Überwindung des mechanischen Weltaspekts durch die intuitive, wiederum religiöse Weltansicht. Es ist das letzte Meisterstück einer Physiognomik, welche auch noch die Systematik als Ausdruck und Symbol in sich auflöst. Wir werden künftig nicht mehr fragen, welche allgemein gültigen Gesetze der chemischen Affinität oder dem Diamagnetismus zugrunde liegen – eine Dogmatik, die das 19. Jahrhundert ausschließlich beschäftigt hat –, wir werden sogar erstaunt sein, daß Fragen wie diese einst Köpfe von solchem Range völlig beherrschen konnten. Wir werden untersuchen, woher diese dem faustischen Geiste vorbestimmten Formen kommen, warum sie uns Menschen einer einzelnen Kultur im Unterschiede von jeder andern kommen mußten, welcher tiefere Sinn darin liegt, daß die gewonnenen Zahlen gerade in dieser bildhaften Verkleidung in Erscheinung traten. Und dabei ahnen wir heute kaum, was alles von den vermeintlich objektiven Werten und Erfahrungen nur Verkleidung, nur Bild und Ausdruck ist.
    Die einzelnen Wissenschaften, Erkenntnistheorie, Physik, Chemie, Mathematik, Astronomie, nähern sich einander mit wachsender Geschwindigkeit. Wir gehen einer vollkommenen Identität der Ergebnisse und damit einer Verschmelzung der Formenwelten entgegen, die einerseits ein auf wenige Grundformeln zurückgeführtes System von Zahlen funktionaler Natur darstellt, andrerseits als deren Benennung eine kleine Gruppe von Theorien bringt, die endlich als verschleierter Mythos der Frühzeit wiedererkannt und ebenfalls auf einige bildhafte Grundzüge, aber von physiognomischer Bedeutung zurückgeführt werden können und müssen. Man hat diese Konvergenz nicht bemerkt, weil seit Kant und eigentlich schon seit Leibniz kein Gelehrter mehr die Problematik
aller
exakten Wissenschaften beherrschte.
    Noch vor hundert Jahren

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