Der Untergang des Abendlandes
Tätigkeit als
Eindruck der Sinne und Urteil der Sinne
, also etwa Urteil des Geruchs, des Geschmacks, des Ohres, so ist schon bei Ameisen und Bienen, bei Raubvögeln, Pferden und Hunden das Schwergewicht sehr oft deutlich nach der Urteilsseite des Wachseins hin verschoben. Aber erst unter Einwirkung der Wortsprache tritt innerhalb des tätigen Wachseins ein offener Gegensatz zwischen Empfinden und Verstehen hervor, eine Spannung, die bei Tieren ganz undenkbar ist und selbst unter Menschen nur als ursprünglich selten verwirklichte Möglichkeiten angenommen werden darf. Die Entwicklung der Wortsprache führt etwas ganz Entscheidendes herbei:
die Emanzipation des Verstehens vom Empfinden.
An Stelle des völlig einheitlichen verstehenden Empfindens erscheint oft und öfter ein Verstehen der Bedeutung von kaum noch beachteten Sinneseindrücken. Endlich werden diese Eindrücke durch die empfundenen Bedeutungen gewohnter Wortklänge verdrängt. Das Wort, ursprünglich der Name eines Sehdings, wird unvermerkt zum Kennzeichen eines Gedankendings, des »Begriffs«. Wir sind weit entfernt, den Sinn solcher Namen scharf zu erfassen – das geschieht nur bei ganz neu auftretenden Namen –, wir gebrauchen nie ein Wort zweimal in derselben Bedeutung; niemand versteht je ein Wort genau so wie der andere. Aber eine Verständigung ist trotzdem möglich durch die den Menschen derselben Sprache mit und durch den Sprachgebrauch anerzogene Weltanschauung, in der beide so leben und weben, daß bloße Wortklänge genügen, um verwandte Vorstellungen wachzurufen. Es ist also ein mittelst der Wortklänge vom Sehen abgezogenes,
abstraktes
, Begreifen, das, so selten es in dieser Selbständigkeit ursprünglich unter Menschen vorkommen mag, dennoch eine scharfe Grenze zwischen der allgemein tierischen und einer dazukommenden, rein menschlichen Art des Wachseins zieht. Ganz ebenso hatte auf einer früheren Stufe das Wachsein überhaupt eine Grenze zwischen dem allgemein pflanzenhaften und dem rein tierhaften Dasein gesetzt.
Das
vom Empfinden abgezogene Verstehen heißt Denken
. Das Denken hat für immer einen Zwiespalt in das menschliche Wachsein getragen. Es hat von früh an Verstand und Sinnlichkeit als hohe und niedere Seelenkraft gewertet. Es hat den verhängnisvollen Gegensatz geschaffen zwischen der Lichtwelt des Auges, die als Scheinwelt und Sinnentrug bezeichnet wird, und einer im wörtlichen Sinne vorgestellten Welt, in der die Begriffe mit ihrer nie abzustreifenden leisen Lichtbetonung ihr Wesen treiben. Das ist nun für den Menschen, solange er »denkt«, die wahre Welt, die Welt an sich. Das Ich war anfangs das Wachsein überhaupt, insofern es sich sehend als Mitte einer Lichtwelt empfand; jetzt wird es »Geist«, nämlich reines Verstehen, das sich selbst als solches »erkennt« und nicht nur die fremde Welt
um sich
, sondern sehr bald auch die übrigen Elemente des Lebens, den »Leib«,
dem Werte nach unter sich
sieht. Ein Zeichen davon ist nicht nur der aufgerichtete Gang des Menschen, sondern auch die durchgeistigte Ausbildung seines Kopfes, an dem immer mehr der Blick und die Bildung von Stirn und Schläfen Träger des Ausdrucks werden. [Daher ist das im stolzen oder gemeinen Sinne Animalische im Gesicht der Menschen, welche die Gewohnheit des Denkens nicht besitzen.]
Es wird deutlich, daß das selbständig gewordene Denken eine neue Betätigung für sich entdeckt hat. Zum praktischen Denken, das sich auf die Beschaffenheit der Lichtdinge im Hinblick auf diesen oder jenen vorliegenden Zweck richtet, tritt das theoretische, durchschauende, das Grübeln, welches die Beschaffenheit dieser Dinge
an sich
, das »Wesen der Dinge« ergründen will. Vom Gesehenen wird das Licht abgezogen, das Tiefenerlebnis des Auges steigert sich in mächtiger Entwicklung ganz deutlich zum Tiefenerlebnis im Reich lichtgefärbter Wortbedeutungen. Man glaubt, daß es möglich sei, in die wirklichen Dinge hinein-, mit dem inneren Blick hindurchzusehen. Man bildet Vorstellungen über Vorstellungen und gelangt endlich zu einer Gedankenarchitektur großen Stils, deren Bauten in voller Deutlichkeit gleichsam in einem inneren Lichte daliegen.
Mit dem theoretischen Denken ist innerhalb des menschlichen Wachseins eine Art von Tätigkeit entstanden, welche nun auch den Kampf zwischen Dasein und Wachsein unvermeidlich gemacht hat. Der tierische Mikrokosmos, in dem Dasein und Wachsein zu einer selbstverständlichen Einheit des Lebens verbunden sind, kennt nur
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