Der Untergang des Abendlandes
erst entscheidende Aufgabe, an die sich noch niemand herangewagt hat. Geht man ihr aus dem Wege, so entsteht das in seinen Grundzügen falsche Bild eines fortlaufenden welthistorischen Geschehens, in dem nichts verloren geht. – Zwei Kulturen können sich von Mensch zu Mensch berühren oder der Mensch der einen die tote Formenwelt der andern in ihren mitteilbaren Resten sich gegenübersehen. Tätig ist in jedem Falle der Mensch allein. Die gewordene Tat des einen kann von einem andern nur aus dessen Dasein heraus beseelt werden. Sie wird damit sein inneres Eigentum, sein Werk und ein Teil seines Selbst. Nicht »der Buddhismus« ist von Indien nach China gewandert, sondern es wurde aus dem Vorstellungsschatz der indischen Buddhisten ein Teil von den Chinesen einer besonderen Gefühlsrichtung angenommen und zu einer
neuen
Art des religiösen Ausdrucks gemacht, die ausschließlich für chinesische Buddhisten etwas bedeutete. Es kommt nie auf den ursprünglichen Sinn der Form an, sondern auf die Form selbst, in welcher das tätige Empfinden und Verstehen des Betrachters die Möglichkeit zu
eigner
Schöpfung entdeckt. Bedeutungen sind unübertragbar. Die tiefe seelische Einsamkeit, die sich zwischen das Dasein zweier Menschen von verschiedener Art legt, wird durch nichts gemindert. Mögen sich damals Inder und Chinesen gemeinsam als Buddhisten empfunden haben, sie standen sich innerlich deshalb nicht weniger fern. Es sind dieselben Worte, dieselben Bräuche, dieselben Zeichen – aber zwei verschiedene Seelen, die ihre eignen Wege gehen.
Man kann daraufhin alle Kulturen durchsuchen, man wird überall bestätigt finden, daß statt der scheinbaren Fortdauer der früheren Schöpfung in der späteren es immer das jüngere
Wesen
war, das eine ganz geringe Anzahl von Beziehungen zu älteren
Wesen
angeknüpft hat, und zwar ohne die ursprüngliche Bedeutung dessen zu beachten, was es damit für sich erwarb. Wie steht es denn mit den »ewigen Errungenschaften« in der Philosophie und Wissenschaft? Wir müssen immer wieder hören, wieviel von der griechischen Philosophie noch heute fortlebt. Aber das bleibt eine Redensart ohne eine gründliche Aufstellung dessen, was erst der magische und dann der faustische Mensch mit der tiefen Weisheit ungebrochener Instinkte abgelehnt, nicht bemerkt oder unter Beibehaltung der Formeln planmäßig anders verstanden hat. Der naive Glaube gelehrter Begeisterung täuscht sich hier. Die Liste würde sehr lang sein und die andre völlig zum Verschwinden bringen. Wir pflegen Dinge wie die Bilderchentheorie Demokrits, die sehr körperhafte Ideenwelt Platos, die zweiundfünfzig Kugelschalen der Welt des Aristoteles als unwesentliche Irrtümer zu übergehen. Das heißt, die Meinung der Toten besser kennen wollen als sie selbst. Es sind wesentliche Wahrheiten – nur nicht für uns. Was wir in Wirklichkeit von der griechischen Philosophie auch nur an Äußerlichem besitzen, ist so gut wie nichts. Man sei doch ehrlich und nehme die alten Denker beim Wort: nicht ein Satz Heraklits, Demokrits, Platos ist für uns wahr, wenn wir ihn nicht erst zurechtmachen. Was haben wir denn von der Methode, dem Begriff, der Absicht, den Mitteln der griechischen Wissenschaft angenommen, von den überhaupt nicht verständlichen Grundworten zu schweigen? Die Renaissance stand ja wohl ganz unter dem »Einfluß« der antiken Kunst? Wie war es aber mit der Form des dorischen Tempels, mit der ionischen Säule, dem Verhältnis von Säule und Gebälk, der Farbenwahl, Hintergrundbehandlung und Perspektive der Gemälde, den Grundsätzen der figürlichen Gruppierung, dem Vasenbild, dem Mosaik, der Enkaustik, der Tektonik der Statue, den Proportionen des Lysippos? Warum übte das alles keinen Einfluß?
Weil es von vornherein feststand, was man ausdrücken wollte,
und man also von dem toten Bestand, den man vor sich hatte, nur das wenige wirklich sah, was man wünschte, und zwar so, wie man es wünschte, nämlich in der Richtung der eignen Absicht und nicht der des Schöpfers, über die keine lebendige Kunst je ernstlich nachgedacht hat. Man muß den »Einfluß« der ägyptischen auf die frühgriechische Plastik Zug um Zug verfolgen, um endlich zu sehen, daß ein Einfluß gar nicht vorhanden ist, sondern daß das griechische Formwollen jenen alten Kunstbeständen einige Merkmale entnahm, die es auch ohne sie in irgend einer Art gefunden hätte. Rings um die antike Landschaft hatten Ägypter, Kreter, Babylonier, Assyrer, Hethiter,
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